Kapitel 1: Das türkisfarbene Erwachen der Treppe

English below: The Reverse Ascent – Chapter 1: The Turquoise Awakening

Am Morgen, als die Wände noch grau waren, wusste ich nicht, dass ich bereits im Inneren der Treppe lebte.

Die Säulen standen verkehrt herum – nicht im architektonischen Sinn, sondern im zeitlichen. Sie waren noch nicht gebaut, sondern erinnerten sich an ihre zukünftige Errichtung. Türkis strömte durch sie hindurch wie gefrorener Atmen. Ich berührte eine der Oberflächen und meine Hand wurde blau. Nicht bemalt. Blau geworden im Sinne von Sein und Werden. Als hätte die Farbe entschieden, dass meine Haut ein besserer Ort sei als der Stein des Anstoßes.

Man hatte mir gesagt, ich solle die Untergeschosse erreichen. Aber niemand hatte mir noch den Anderen erklärt, ob unten eine Richtung war oder ein Zustand, unser Zustand. Die Treppen – überall Treppen – stiegen in alle Richtungen gleichzeitig. Manche führten nach oben und endeten tiefer als ihr Anfang. Andere verliefen horizontal, doch wer sie betrat, fiel zur Seite. Ich wählte eine, die aussah wie ein Kompromiss: Sie wendelte sich nach innen, in die eigene Substanz hinein, als wolle sie verschwinden, bevor sie irgendwo ankam.

Der Architekt – so nannte man ihn, obwohl er nie etwas gebaut, sondern nur umgebaut hatte – dieser Architekt war vor Jahren in seinen eigenen Plänen auf nimmer Wiedersehen verschwunden. Er hatte vor Kurzem begonnen, Treppen zu zeichnen, die den Boden nicht berührten. Dann Säulen ohne Kapitel im Plan. Schließlich Räume, die mehr Ecken besaßen, als ihre Wände es auf dem Grundriss erlaubten. Als man ihn fand, lag er zusammengerollt zu Zuckerwatte im rechten Winkel eines Korridors, der nur von innen existierte. Seine letzte Notiz lautete: “Grau ist die Erschöpfung der Geometrie. Türkis – Es bleibt mein Traum.”

Ich stieg hinauf. Oder war es hinab?

Oder ich sank und stieg zugleich. Die Bewegung fühlte sich identisch an. Um mich herum erhoben sich weitere Säulen, zylindrisch und zugleich unmöglich schmal, als seien sie aus geronnener Perspektive gegossen. Zwischen ihnen spannten sich Flächen – keine Wände, eher materialisierte Blickwinkel. Manche waren durchscheinend türkis, andere opak grau, einige wellenförmig wie geronnene Übelkeit.

Ich erinnerte mich nicht, wie ich hierher gekommen war. Aber Erinnerung, stellte ich fest, war in diesem Gebäude keine notwendige Kategorie. Die Treppen selbst waren Erinnerung – versteinerte Bewegung, die sich daran erinnerte, dass sie einmal nach oben führen wollte, bevor sie verlernte, was oben bedeutete.

Ein Geländer materialisierte sich unter meiner Hand. Oder meine Hand materialisierte sich am Geländer. Vielleicht war beides wahr. Es fühlte sich glatt an, zu glatt, als hätte es noch nie jemand berührt, obwohl meine Handfläche bereits feucht war von der Berührung, die noch bevorstand.

Am Fuß der Treppe – wenn es ein Fuß war und nicht eher ein Mund – öffnete sich ein Raum. Quadratisch, dachte ich zuerst, doch als ich eintrat, bemerkte ich, dass die Ecken sich weigerten, rechtwinklig zu sein. Sie verhandelten miteinander, trafen sich in verschiedenen Gradwinkeln, als wäre Geometrie eine Frage der Diplomatie, nicht der Mathematik.

In der Mitte des Raumes stand ein Tisch. Er war nicht türkis, nicht grau, nicht blau – er war zwischen den Farben, wie ein Ort, den das Licht vergessen hatte zu entscheiden. Auf dem Tisch lag ein Buch. Ich schlug es auf. Die Seiten waren leer, aber die Leere war nicht weiß. Sie war das Negativ von Text, die Abwesenheit von Worten, die so präzise war, dass man lesen konnte, was nie geschrieben worden war.

Ich las: “Wer nach unten steigt, um anzukommen, ist bereits oben gewesen.”

Hinter mir veränderte die Treppe ihre Meinung und so auch meine. Ich hörte es – das Geräusch von Stufen, die ihre Reihenfolge neu ordneten, das Knirschen von Geometrie, die sich an ihre Ursprungsidee zu erinnern versuchte. Als ich mich umdrehte, war die Treppe verschwunden. An ihrer Stelle: eine Wand. Türkisfarben. Atmend, seufzend, schnaubend.

Nein, nicht atmend. Pulsierend. Die Farbe war lebendig. Sie kroch über die Oberfläche wie langsames Wasser, sammelte sich in den Vertiefungen, ergoss sich über unsichtbare Kanten. Ich trat näher. Die Türkise intensivierte sich, als reagiere sie auf meine Nähe. Flüsternd. Falls Farbe flüstern konnte.

“Du bist der Neue”, sagte die Wand.

Ich antwortete nicht. Antworten, überlegte ich, setzten voraus, dass Fragen und Antworten verschiedene Dinge waren. Hier schienen sie identisch.

“Der Architekt”, fuhr die Wand fort, “hat vergessen, die Ausgänge einzubauen. Oder er hat sie eingebaut und vergessen, wo. Beides ist möglich. Beides ist bereits geschehen.”

“Wie verlasse ich diesen Ort?”

“Durch Aufsteigen”, sagte die Wand. “Es gibt keine andere Richtung. Aber du wirst feststellen, dass Aufsteigen bedeutet, tiefer in das Gebäude einzudringen. Das Gebäude ist umgekehrt. Oder wir alle. Die Schwerkraft hier funktioniert rückwärts, aber nur für diejenigen, die verstehen, was vorwärts bedeutet hätte.”

Ich berührte die türkise Oberfläche. Sie war warm. Fiebrig. Meine Fingerspitzen färbten sich, und für einen Moment sah ich durch sie hindurch – nicht durch die Haut, sondern durch die Idee von Fingern. Dahinter: weitere Räume. Ungebaute Säle. Treppen, die in sich selbst hineinführten wie mathematische Paradoxe.

“Wo ist der Architekt jetzt?”

“Überall”, sagte die Wand. “Er ist in den Winkeln. Er ist die Unmöglichkeit, die das Gebäude zusammenhält. Ohne ihn würde alles in korrekte Geometrie zurückfallen – und das wäre das Ende.”

Ich wandte mich ab. Hinter dem Tisch öffnete sich eine Tür, die vorher nicht existiert hatte. Oder sie hatte existiert, und ich hatte vergessen hinzusehen. Durch die Öffnung strömte Grau – nicht als Farbe, sondern als Erschöpfung, wie der Architekt geschrieben hatte. Die Erschöpfung der Geometrie.

Ich trat hindurch.

Die nächste Treppe wartete bereits. Sie stieg auf. Ich begann zu klettern, wusste aber, dass ich mit jeder Stufe tiefer sank – nicht im Raum, sondern in etwas anderem. In die Struktur selbst. In das, was Gebäude träumten, wenn niemand sie bewohnte.

Über mir – oder unter mir – wehten türkisfarbene Banner aus geronnener Luft. Die Säulen vermehrten sich. Und irgendwo, zwischen den Stufen und dem, was keine Stufen mehr waren, begann ich zu verstehen: Ich suchte nicht den Ausgang.

Ich war selbst zu einem geworden.

In English please:

In the morning, when the walls were still gray, I didn’t know that I was already living inside the staircase.

The columns stood upside down—not in an architectural sense, but in a temporal one. They had not yet been built, but remembered their future construction. Turquoise flowed through them like frozen breath. I touched one of the surfaces and my hand turned blue. Not painted. Blue became in the sense of being and becoming. As if the color had decided that my skin was a better place than the stone of offense.

I had been told to reach the basement. But no one had yet explained to me whether downstairs was a direction or a state, our state. The stairs—stairs everywhere—climbed in all directions at once. Some led upward and ended deeper than where they began. Others ran horizontally, but anyone who stepped on them fell to the side. I chose one that looked like a compromise: it wound inward, into its own substance, as if it wanted to disappear before it arrived anywhere.

The architect—that’s what they called him, even though he had never built anything, only rebuilt—this architect had disappeared into his own plans years ago, never to be seen again. He had recently begun to draw stairs that did not touch the ground. Then columns without capitals in the plan. Finally, rooms that had more corners than their walls allowed on the floor plan. When he was found, he was curled up like cotton candy in the right angle of a corridor that existed only from the inside. His last note read: “Gray is the exhaustion of geometry. Turquoise—it remains my dream.”

I climbed up. Or was it down?

Or perhaps I sank and ascended at the same time. The movement felt identical. Around me rose more columns, cylindrical and impossibly narrow, as if cast from congealed perspective. Between them stretched surfaces—not walls, but rather materialized angles of vision. Some were translucent turquoise, others opaque gray, some wavy like congealed nausea.

I didn’t remember how I had gotten here. But memory, I realized, was not a necessary category in this building. The stairs themselves were memory—petrified movement that remembered once wanting to lead upward before it forgot what upward meant.

A railing materialized under my hand. Or my hand materialized on the railing. Perhaps both were true. It felt smooth, too smooth, as if no one had ever touched it, even though my palm was already damp from the touch that was yet to come.

At the foot of the stairs—if it was a foot and not rather a mouth—a room opened up. Square, I thought at first, but as I entered, I noticed that the corners refused to be right angles. They negotiated with each other, meeting at different angles, as if geometry were a matter of diplomacy, not mathematics.

In the middle of the room stood a table. It was not turquoise, not gray, not blue—it was between colors, like a place the light had forgotten to decide on. On the table lay a book. I opened it. The pages were blank, but the blankness was not white. It was the negative of text, the absence of words so precise that one could read what had never been written.

I read: “Those who descend to arrive have already been above.”

Behind me, the staircase changed its mind, and so did I. I heard it—the sound of steps rearranging themselves, the crunch of geometry trying to remember its original idea. When I turned around, the staircase was gone. In its place: a wall. Turquoise. Breathing, sighing, snorting.

No, not breathing. Pulsating. The color was alive. It crept across the surface like slow water, gathering in the recesses, spilling over invisible edges. I stepped closer. The turquoise intensified, as if reacting to my proximity. Whispering. If color could whisper.

“You’re the new one,” said the wall.

I didn’t answer. Answers, I thought, presupposed that questions and answers were different things. Here, they seemed identical.

“The architect,” the wall continued, “forgot to build in the exits. Or he built them in and forgot where. Both are possible. Both have already happened.“

”How do I leave this place?“

”By ascending,“ said the wall. ”There is no other direction. But you will find that ascending means penetrating deeper into the building. The building is upside down. Or all of us are. Gravity here works backwards, but only for those who understand what forward would have meant.”

I touched the turquoise surface. It was warm. Feverish. My fingertips stained, and for a moment I saw through them—not through the skin, but through the idea of fingers. Behind them: more rooms. Unbuilt halls. Stairs leading into themselves like mathematical paradoxes.

“Where is the architect now?”

“Everywhere,” said the wall. “He is in the corners. He is the impossibility that holds the building together. Without him, everything would fall back into correct geometry—and that would be the end.”

I turned away. Behind the table, a door opened that had not existed before. Or it had existed, and I had forgotten to look. Gray poured through the opening—not as a color, but as exhaustion, as the architect had written. The exhaustion of geometry.

I stepped through.

The next staircase was already waiting. It rose upward. I began to climb, but I knew that with each step I sank deeper—not into space, but into something else. Into the structure itself. Into what buildings dreamed when no one lived in them.

Above me—or below me—turquoise banners of congealed air fluttered. The columns multiplied. And somewhere, between the steps and what were no longer steps, I began to understand: I wasn’t looking for the exit.

I had become one myself.


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