Kapitel 2: Der Innenhof der vergessenen Schreie

Das Pink begann, bevor ich es sah.

Zuerst als Geschmack – metallisch, zu süß, wie angesäuerte Kindheitserinnerungen. Dann als Druck hinter den Augen. Schließlich als Gewissheit: Die nächste Ebene würde nicht türkis oder gar blau sein. Die Gebäude hatten sich entschieden, ihre und deren Stimmung zu ändern.

Der Korridor öffnete sich ohne Vorwarnung. Nicht durch eine Tür, sondern indem die Wände einfach aufhörten, sich zu erinnern, dass sie geschlossen sein sollten. Ich stand am Rand eines Innenhofs – wenn Innen und Hof die richtigen Worte waren für einen Raum, die nach innen expandierten statt sich nach außen zu öffnen.

Magenta. Überall Magenta. Ein bunter Schrei, der zu Farben geronnen war.

Die Wände stiegen in allen Richtungen auf, türmten sich übereinander wie falsch gestapelte Erinnerungen. Fenster durchbrachen die Flächen – kleine rechteckige Öffnungen, manche pink, manche grau, einige in einem Violett, das aussah wie gequetschtes Licht. Sie führten nirgendwohin. Oder überallhin. Als ich durch eines blickte, sah ich denselben Innenhof, aber aus einem anderen Winkel, in einer anderen Zeit. In einem der Fenster stand ich selbst und blickte zurück.

Der Boden war zerbrochen. Nicht zerstört – zerbrochen in verlorener Bedeutung. Rosa, Pink, Violett, Grau – die Farbplatten lagen wie zersprungene Gedanken durcheinander, weigerten sich, ein Muster zu bilden. Manche Stücke ragten nach oben, andere sanken nach unten, und einige schwebten genau in der Mitte, unentschieden, welche Richtung die korrekte war.

Ich setzte einen Fuß auf eine pinkfarbene Platte. Sie gab leicht nach – nicht spürbar, sondern hörbar. Ein Ton, hoch und durchdringend, wie von einem Instrument, das nur aus Schweigen bestand. Die nächste Platte, violett, summte tiefer. Die graue blieb schwieg. Aber ihr Schweigen war so laut, dass es zu hören weh mir tat.

“Das ist der Hof der Dissonanz”, sagte eine Stimme.

Ich drehte mich um. Niemand. Aber in einem der Fenster, drei Etagen über mir – oder unter mir, die Perspektive weigerte sich zu kooperieren – bewegte sich ein Schatten. Menschenförmig. Beinahe.

“Der Architekt”, fuhr die Stimme fort, “wollte einen Ort schaffen, an dem Farben sich streiten könnten. Er glaubte, dass Pink und Magenta soziale, wenn auch nicht natürliche Feinde seien. Dass sie sich gegenseitig auslöschen würden, wenn man sie nah genug zusammenbrächte. Stattdessen haben sie sich verbündet.”

“Gegen was?”

“Gegen uns. Gegen alle, die durch sie hindurchgehen wollen.”

Ich blickte auf den Boden zurück. Die Farbplatten hatten sich neu arrangiert. Das Pink hatte sich ausgebreitet, fraß sich in die Ränder der grauen Fliesen, infizierte sie mit seiner Intensität. Das Magenta pulsierte rhythmisch, wie ein zu schnelles Herz.

“Wie komme ich durch?”

“Man tanzt”, sagte die Stimme. “Oder man wird getanzt. Das Gebäude macht keinen Unterschied.”

Die Wände um mich herum – vier? fünf? ihre Anzahl war instabil – waren übersät mit jenen merkwürdigen Fenstern. Manche leuchteten von innen, als würde dahinter ein anderer Tag herrschen. Durch eines sah ich Regen fallen, der nach oben tropfte. Durch ein anderes: Schnee, der horizontal wehte, parallel zum Boden, als hätte die Schwerkraft die Dimensionen verwechselt.

Ich begann zu gehen. Jeder Schritt ein anderer Ton. Pink – ein Kreischen. Violett – ein Stöhnen. Rosa – ein Wispern, das klang wie ein rückwärts gesprochener Name. Grau – die Abwesenheit von Klang, so vollständig, dass sie ein eigenes Geräusch wurde.

Die Wände neigten sich zueinander. Nicht physisch – sie blieben starr – aber perspektivisch. Der Fluchtpunkt des Innenhofs lag nicht am Ende, sondern in der Mitte, in mir selbst. Ich war der Ort, an dem alle Linien zusammenliefen. Das Gefühl war unerträglich: zentral und trotzdem überflüssig zu sein.

An der gegenüberliegenden Wand – wenn gegenüber liegend Sinn ergab in einem Raum, dessen Geometrie sich weigerte, Opposition anzuerkennen – öffnete sich ein Durchgang. Rot umrahmt. Nicht karminrot. Nicht scharlach. Ein Rot, das aussah wie materialisierte Dringlichkeit.

Ich ging darauf zu. Mit jedem Schritt wurde der Boden weicher. Die Farbplatten gaben nach, nicht unter meinem Gewicht, sondern unter meiner Absicht. Als wüssten sie, dass ich versuchte zu entkommen, und wollten mich daran hindern, indem sie meine Bewegung in Klang verwandelten, in Musik, in etwas, das gefangen werden konnte.

“Du bist schneller als die anderen”, sagte die Stimme. Sie kam jetzt von überall. Aus den Fenstern, aus den Wänden, aus dem Boden selbst. “Die meisten bleiben hier. Sie versuchen, das Muster zu verstehen. Sie glauben, wenn sie nur lange genug hinschauen, würden sich die Farben in eine Ordnung fügen. Aber die Farben sind Ordnung. Nur eine, die wir nicht lesen können.”

Ich erreichte den roten Durchgang. Er war schmal, kaum breit genug für einen Menschen. Die Ränder vibrierten. Als ich hindurchtrat, spürte ich, wie die Farbe mich abtastete, untersuchte, katalogisierte. Meine Kleidung färbte sich an den Stellen, wo ich die Wand berührte. Erst pink. Dann violett. Dann ein Grau, das so dunkel war, dass es fast schwarz wirkte.

Dahinter: ein weiterer Korridor. Schmaler. Die Wände aus übereinander geschichteten Farbblöcken – wie eine Wand aus missglückten Experimenten, aus Versuchen, die richtige Nuance zu finden und jedes Mal knapp zu scheitern. Manche Blöcke leuchteten. Andere absorbierten jedes Licht. Einige taten beides gleichzeitig.

Über mir – endlich war oben wieder eine verlässliche Richtung – öffnete sich der Himmel. Türkis. Derselbe blasse, fieberhafte Türkis wie im ersten Raum. Ein Stück Kontinuität in einer Welt, die Kontinuität als persönliche Beleidigung betrachtete.

“Der Himmel ist auch Teil des Gebäudes”, sagte die Stimme. Sie klang müde jetzt. “Der Architekt hat ihn eingefangen, als er noch jung war. Er dachte, Himmel wären stabil. Verlässlich. Er irrte sich. Dieser hier ist genauso gefangen wie wir.”

“Wer bist du?”

“Ich war ein Aufseher. Dann ein Gefangener. Jetzt bin ich ein Fenster. Das Gebäude wandelt uns um, je nachdem, wie nützlich wir sind. Wenn ich aufhöre zu sprechen, werde ich zu einer Wand. Deshalb rede ich. Immer. Auch wenn niemand zuhört.”

Ich blickte zurück. Der Innenhof hatte sich verändert. Das Pink war zu Rot geworden. Das Magenta zu einem tiefen, traurigen Violett. Die Farben alterten, während ich zusah. In hundert Jahren würden sie vielleicht Grau sein. In tausend Jahren: transparent.

Vor mir erstreckte sich der neue Korridor. An seinem Ende – falls es ein Ende gab – leuchtete etwas Weißes. Nicht die Farbe Weiß. Die Idee von Weiß. Die Abwesenheit aller Färbung, so vollständig, dass sie wie ein Versprechen wirkte.

“Geh nicht dorthin”, sagte die Stimme. “Das Weiße ist der gefährlichste Teil. Dort vergisst man, welche Farbe man selbst einmal war.”

Aber ich ging bereits. Jeder Schritt ein Abschied von einer Nuance. Das Pink verblasste hinter mir. Das Magenta verstummte. Nur das Rot blieb – eine dünne Linie entlang des Horizonts, ein letzter Protest gegen die kommende Farblosigkeit.

Und dann, kurz bevor ich das Weiße erreichte, drehte ich mich noch einmal um.

Der Innenhof war verschwunden. An seiner Stelle: ein Fenster. Klein, rechteckig, magentafarben. Durch es blickte jemand heraus.

Ich selbst.

Aber ein Ich, das noch nicht weitergegangen war. Ein Ich, das noch entschied, ob es den ersten Schritt wagen sollte.

Ich winkte. Das Ich im Fenster winkte nicht zurück. Es war noch nicht bereit.

Dann verschluckte mich das Weiße.

English

Chapter 2: The Courtyard of Forgotten Screams

The pink began before I saw it.

First as a taste—metallic, too sweet, like a spoiled childhood. Then as pressure behind my eyes. Finally as certainty: the next level would not be turquoise. The building had decided to change its mood.

The corridor opened without warning. Not through a door, but simply because the walls stopped remembering that they were supposed to be closed. I stood at the edge of a courtyard—if courtyard was the right word for a space that expanded inward instead of opening up.

Magenta. Magenta everywhere. A scream that had coagulated into color.

The walls rose in all directions, piling up on top of each other like misplaced memories. Windows broke through the surfaces—small rectangular openings, some pink, some gray, some in a violet that looked like crushed light. They led nowhere. Or everywhere. When I looked through one, I saw the same courtyard, but from a different angle, in a different time. In one of the windows, I stood myself, looking back.

The floor was broken. Not destroyed—broken in meaning. Pink, purple, gray—the colored tiles lay jumbled together like shattered thoughts, refusing to form a pattern. Some pieces protruded upward, others sank downward, and some hovered right in the middle, undecided which direction was the correct one.

I placed one foot on a pink tile. It gave way—not physically, but acoustically. A sound, high and piercing, like an instrument made only of pain. The next tile, purple, hummed lower. The gray one was silent. But its silence was so loud it hurt.

“This is the courtyard of dissonance,” said a voice.

I turned around. No one. But in one of the windows, three floors above me—or below me, perspective refused to cooperate—a shadow moved. Human-shaped. Almost.

“The architect,” the voice continued, “wanted to create a place where colors could fight. He believed that pink and magenta were natural enemies. That they would cancel each other out if brought close enough together. Instead, they formed an alliance.”

“Against what?”

“Against us. Against anyone who wants to pass through them.”

I looked back at the floor. The color panels had rearranged themselves. The pink had spread, eating into the edges of the gray tiles, infecting them with its intensity. The magenta pulsed rhythmically, like a heart beating too fast.

“How do I get through?”

“You dance,” said the voice. “Or you are danced. The building makes no difference.”

The walls around me—four? Five? Their number was unstable—were littered with those strange windows. Some glowed from within, as if another day prevailed behind them. Through one, I saw rain falling, dripping upward. Through another: snow blowing horizontally, parallel to the ground, as if gravity had confused the dimensions.

I began to walk. Each step a different sound. Pink—a screech. Violet—a moan. Rose—a whisper that sounded like a name spoken backwards. Gray—the absence of sound, so complete that it became a sound in itself.

The walls leaned toward each other. Not physically—they remained rigid—but perspectively. The vanishing point of the courtyard was not at the end, but in the middle, within myself. I was the place where all the lines converged. The feeling was unbearable: to be central and yet superfluous.

On the opposite wall—if opposite made sense in a room whose geometry refused to acknowledge opposition—a passageway opened up. Framed in red. Not carmine. Not scarlet. A red that looked like materialized urgency.

I walked toward it. With each step, the floor became softer. The colored panels gave way, not under my weight, but under my intention. As if they knew I was trying to escape and wanted to prevent me by turning my movement into sound, into music, into something that could be captured.

“You’re faster than the others,” said the voice. It was coming from everywhere now. From the windows, from the walls, from the floor itself. “Most stay here. They try to understand the pattern. They believe that if they look long enough, the colors will fall into order. But the colors are order. Just one we can’t read.”

I reached the red passageway. It was narrow, barely wide enough for a person. The edges vibrated. As I stepped through, I felt the color scanning me, examining me, cataloging me. My clothes changed color where I touched the wall. First pink. Then purple. Then a gray so dark it looked almost black.

Behind it: another corridor. Narrower. The walls were made of layers of color blocks—like a wall of failed experiments, of attempts to find the right shade, each time falling just short. Some blocks glowed. Others absorbed all light. Some did both at once.

Above me—finally, up was a reliable direction again—the sky opened up. Turquoise. The same pale, feverish turquoise as in the first room. A piece of continuity in a world that considered continuity a personal insult.

“The sky is also part of the building,” said the voice. It sounded tired now. “The architect captured it when he was still young. He thought skies were stable. Reliable. He was wrong. This one is just as trapped as we are.“

”Who are you?“

”I was a guard. Then a prisoner. Now I am a window. The building transforms us according to how useful we are. If I stop talking, I will become a wall. That’s why I talk. Always. Even when no one is listening.”

I looked back. The courtyard had changed. The pink had turned to red. The magenta to a deep, sad violet. The colors aged as I watched. In a hundred years, they might be gray. In a thousand years: transparent.

The new corridor stretched out before me. At its end—if there was an end—something white glowed. Not the color white. The idea of white. The absence of all color, so complete that it seemed like a promise.

“Don’t go there,” said the voice. “The white is the most dangerous part. There, you forget what color you once were.”

But I was already walking. Each step a farewell to a nuance. The pink faded behind me. The magenta fell silent. Only the red remained—a thin line along the horizon, a last protest against the coming colorlessness.

And then, just before I reached the white, I turned around once more.

The courtyard had disappeared. In its place: a window. Small, rectangular, magenta. Someone was looking out through it.

Myself.

But a me that hadn’t moved on yet. A me that was still deciding whether to take the first step.

I waved. The me in the window didn’t wave back. It wasn’t ready yet.

Then the white swallowed me up.


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