GEDICHT / POEM
Der Mann gegenüber von Mittwoch
Sein Gesicht zerfiel in Vierecke, als die Bahn anfuhr. Jede Farbe behauptete eine andere Richtung— das Blau wollte nach Pasing, das Orange nach Freising. Seine Augen blieben stehen, während seine Wangen weiterfuhren.
Zwischen Ostbahnhof und Marienplatz verlor er seinen Mund an Zone M. Die Stirn argumentierte lautstark mit dem Kinn über den kürzesten Weg nach Hause.
Niemand bemerkte, wie seine Nase die Haltestelle verpasste. Das Grün seiner Schläfen klang nach Dienstag. Das Rot seiner Lippen roch nach verpassten Anschlüssen.
An der Endstation setzte er sein Gesicht falsch zusammen— seither grüßt er rückwärts und schaut mit dem Nacken.
The Man Across From Wednesday
His face fell into squares when the train started moving. Each color insisted on a different direction— the blue wanted Pasing, the orange Freising. His eyes stayed put while his cheeks traveled on.
Between Ostbahnhof and Marienplatz he lost his mouth to Zone M. The forehead argued loudly with the chin about the shortest way home.
Nobody noticed his nose missing its stop. The green of his temples sounded like Tuesday. The red of his lips smelled of missed connections.
At the final station he reassembled his face wrong— since then he greets backwards and looks with his neck.
GESCHICHTE / STORY
Die Geometrie der Fremden
Es war verboten, Gesichter in der S-Bahn zusammenzusetzen, aber der Schaffner tat es trotzdem. Jeden Morgen zwischen Hauptbahnhof und Marienplatz sammelte er die verlorenen Dreiecke, die heruntergefallenen Rechtecke, die vergessenen Trapeze. Die Fahrgäste merkten nichts—sie lasen Zeitung oder starrten auf Bildschirme, während ihre Gesichtsteile leise auf den Boden rollten.
Der Schaffner bewahrte die Formen in einer blauen Tasche auf. Manchmal kamen Leute zu ihm und beschwerten sich: “Meine Stirn fühlt sich unvollständig an.” Oder: “Gestern hatte ich noch ein rundes Kinn, heute ist es eckig.” Er nickte verständnisvoll und erklärte, dass die Geschwindigkeit der Bahn die Gesichter beschleunige, bis sie in ihre geometrischen Einzelteile zerfielen.
Eines Tages beschloss er, ein perfektes Gesicht zu bauen. Er wählte das intensivste Blau von einer Frau aus Schwabing, das melancholischste Orange von einem Mann aus Giesing, das stolzeste Lila von einem Kind aus der Maxvorstadt. Stundenlang arrangierte er die Teile nach dem Fahrplan: blaue Augen für die Stammstrecke, rote Wangen für die Linien nach Starnberg, schwarze Konturen für die U-Bahn-Anschlüsse.
Als er fertig war, öffnete das Gesicht die Augen und fragte: “Welche Endhaltestelle?”
Der Schaffner antwortete ehrlich: “Es gibt keine. Du fährst in alle Richtungen gleichzeitig.”
Das Gesicht lächelte erleichtert. Endlich war jemand angekommen, ohne jemals loszufahren.
The Geometry of Strangers
It was forbidden to reassemble faces on the S-Bahn, but the conductor did it anyway. Every morning between Hauptbahnhof and Marienplatz, he collected the lost triangles, the fallen rectangles, the forgotten trapezoids. The passengers noticed nothing—they read newspapers or stared at screens while their facial parts quietly rolled onto the floor.
The conductor kept the shapes in a blue bag. Sometimes people came to him complaining: “My forehead feels incomplete.” Or: “Yesterday I still had a round chin, today it’s angular.” He nodded understandingly and explained that the train’s velocity accelerated faces until they disintegrated into their geometric components.
One day he decided to build a perfect face. He chose the most intense blue from a woman from Schwabing, the most melancholic orange from a man from Giesing, the proudest purple from a child from Maxvorstadt. For hours he arranged the pieces according to the timetable: blue eyes for the Stammstrecke, red cheeks for the lines to Starnberg, black contours for the subway connections.
When he finished, the face opened its eyes and asked: “Which is the final stop?”
The conductor answered honestly: “There is none. You’re traveling in all directions simultaneously.”
The face smiled with relief. Finally someone had arrived without ever departing.


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