Gesichter der S-Bahn / S-Bahn Faces


GEDICHT / POEM

Der Dirigent der Linien

Sein Kopf war ein Fahrplan, der sich selbst nicht glaubte. Jede Linie behauptete, die einzig wahre Route zu sein— das Türkis fuhr nach innen, das Rosa nach außen, das Orange diagonal durch seine Gedanken.

Bei Rosenheimer Platz faltete sich seine Stirn dreimal. Seine Augen lagen übereinander wie verpasste Termine, sein Mund öffnete sich in fünf verschiedenen Richtungen gleichzeitig— Norden sprach Hoffnung, Süden flüsterte Zweifel.

Die Nase war ein Umsteigebahnhof für verlorene Gedanken. Das Kinn eine Endstation, die nie erreicht wurde. Seine Wangen vibrierten in der Frequenz der Gleise.

Am Abend, wenn alle Züge schlafen, zerfällt sein Gesicht in einzelne Streifen— morgen baut es sich in anderer Reihenfolge wieder auf.


The Conductor of Lines

His head was a timetable that didn’t believe itself. Each line insisted it was the only true route— the turquoise traveled inward, the pink outward, the orange diagonally through his thoughts.

At Rosenheimer Platz his forehead folded three times. His eyes lay on top of each other like missed appointments, his mouth opened in five different directions simultaneously— north spoke hope, south whispered doubt.

The nose was a transfer station for lost thoughts. The chin a final stop never reached. His cheeks vibrated at the frequency of the tracks.

In the evening, when all trains sleep, his face falls into separate strips— tomorrow it rebuilds itself in a different order.


GESCHICHTE / STORY

Die Architektur der Erinnerung

Er war der einzige Fahrgast, der sich an alle S-Bahn-Linien gleichzeitig erinnern konnte. Sein Gesicht trug die Karte der Stadt—nicht wie sie war, sondern wie sie sein könnte, wenn alle Routen gleichzeitig existierten. Das Türkis seiner Augen war die S1 nach Freising, das Rosa seiner Wangen die S8 nach Herrsching, das Orange seiner Stirn eine Linie, die es nie gegeben hatte, aber hätte geben sollen.

Jeden Tag setzte er sich in einen anderen Wagen und wartete darauf, dass jemand ihn erkannte. Niemand tat es. Die Leute starrten durch ihn hindurch, als wäre er aus Glas, aus Zeit, aus Fahrplänen gemacht, die vor dreißig Jahren gedruckt wurden.

Eines Nachmittags sprach ihn eine Frau an: “Entschuldigung, welche Linie fährt nach gestern?”

Er überlegte lange. Sein Gesicht begann sich zu drehen—die Streifen bewegten sich wie Zahnräder, türkis verschob sich über rosa, orange tanzte mit violett. “Es gibt keine Linie nach gestern”, sagte er schließlich. “Aber die S7 kommt sehr nah dran, wenn man bei Höllriegelskreuth aussteigt und zu Fuß zurückgeht.”

Die Frau nickte verständnisvoll und stieg aus.

Er blieb sitzen. Sein Gesicht ordnete sich neu—jetzt zeigte es die Stadt von morgen. Die Linien waren dieselben, aber die Farben hatten ihre Meinungen geändert. Das Türkis war jetzt melancholisch. Das Rosa wurde wütend. Das Orange philosophierte laut über den Unterschied zwischen Ankunft und Ankommen.

An der Endstation löste sich sein Kopf in geometrische Wahrheiten auf. Jemand würde ihn morgen wieder zusammensetzen. Jemand würde ihn wieder falsch verstehen.


The Architecture of Memory

He was the only passenger who could remember all S-Bahn lines simultaneously. His face carried the map of the city—not as it was, but as it could be if all routes existed at once. The turquoise of his eyes was the S1 to Freising, the pink of his cheeks the S8 to Herrsching, the orange of his forehead a line that had never existed but should have.

Every day he sat in a different car and waited for someone to recognize him. Nobody did. People stared through him as if he were made of glass, of time, of timetables printed thirty years ago.

One afternoon a woman addressed him: “Excuse me, which line goes to yesterday?”

He thought for a long time. His face began to rotate—the strips moved like gears, turquoise shifted over pink, orange danced with purple. “There is no line to yesterday,” he finally said. “But the S7 comes very close if you get off at Höllriegelskreuth and walk back.”

The woman nodded understandingly and got off.

He remained seated. His face rearranged itself—now it showed the city of tomorrow. The lines were the same, but the colors had changed their opinions. The turquoise was now melancholic. The pink became angry. The orange philosophized loudly about the difference between arrival and arriving.

At the final station his head dissolved into geometric truths. Someone would reassemble him tomorrow. Someone would misunderstand him again.

Perfect! I’ll use this exact closing for all future posts in this project:


Dies ist ein DaDa-Projekt. Hör auf, nach Bedeutung zu suchen, denn es ist dada (sic!) driven. Genieße einfach für einen Moment die Reise deines Geistes.

This is a DaDa project. So stop searching for meaning, because it’s dada (sic!) driven. Just enjoy the journey of your mind for a moment.


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