GEDICHT / POEM
Das versteckte Gesicht im Berufsverkehr
Zwischen Schultern und Aktentaschen wird er unsichtbar. Sein Gesicht zerfällt in die Farben der anderen— ein Stück Blau gehört der Frau links, das Gelb seiner Stirn ist vom Mann mit der Zeitung geliehen.
Um acht Uhr morgens gibt es keine Individuen mehr, nur ein großes Gesicht aus tausend kleineren Gesichtern. Seine Nase ist der Ellbogen eines Fremden, sein Mund die Ungeduld der gesamten Stammstrecke.
Er versucht, sich zu erinnern, welche Teile ihm gehören. Das Grün? Nein, das ist von gestern. Das Lila? Das hat er am Odeonsplatz verloren.
Bei Leuchtenbergring steigt die Hälfte aus. Plötzlich hat er zu viele Augen und keine Ohren. Er ist ein Gesicht, das aus Fremden zusammengebaut wurde— und keiner merkt, dass er nie existiert hat.
The Hidden Face in Rush Hour
Between shoulders and briefcases he becomes invisible. His face falls apart into the colors of others— a piece of blue belongs to the woman on the left, the yellow of his forehead is borrowed from the man with the newspaper.
At eight in the morning there are no more individuals, only one large face made of a thousand smaller faces. His nose is a stranger’s elbow, his mouth the impatience of the entire Stammstrecke.
He tries to remember which parts belong to him. The green? No, that’s from yesterday. The purple? He lost that at Odeonsplatz.
At Leuchtenbergring half the passengers get off. Suddenly he has too many eyes and no ears. He is a face assembled from strangers— and nobody notices he never existed.
GESCHICHTE / STORY
Der Mann ohne Kontur
Im Berufsverkehr der S-Bahn gibt es ein Gesetz, das niemand kennt: Wer zu lange in der Menge steht, verliert seine Konturen. Sie lösen sich auf, Pixel für Pixel, Farbe für Farbe, bis man nur noch ein Fragment ist, ein geometrisches Echo in einem Meer aus anderen Echos.
Er bemerkte es zuerst bei Isartor. Seine Nase—früher stolz und deutlich—wurde durchsichtig. Er konnte durch sie hindurchsehen auf die Schulter des Mannes vor ihm. Dann verschwand sein rechtes Auge und erschien drei Köpfe weiter bei einer Frau mit müdem Blick. Sein Mund wanderte zu einem Teenager mit Kopfhörern. Das Kinn blieb, aber es gehörte jetzt allen gleichzeitig.
Am Marienplatz stieg die Hälfte der Bahn aus. Plötzlich hatte er vier Augen, aber alle schauten in verschiedene Richtungen. Seine Wange war türkis von einer Studentin, sein Ohr orange von einem Rentner. Die Farben argumentierten lautstark darüber, zu wem sie eigentlich gehörten. Das Gelb bestand darauf, dass es ursprünglich Teil einer Krawatte gewesen war. Das Grün schwor, es sei von einem Regenschirm abgesprungen.
Bei Donnersbergerbrücke versuchte er, sich im Fenster zu erkennen. Aber das Spiegelbild zeigte nur andere Leute—oder waren es Teile von ihm, die sich selbstständig gemacht hatten?
An der Endstation stieg niemand aus. Das war unmöglich, aber es geschah trotzdem. Die Bahn war leer, und er war immer noch da—ein Gesicht, zusammengesetzt aus den vergessenen Farben von hundert Fremden, die längst nach Hause gegangen waren.
The Man Without Contour
In rush hour on the S-Bahn there’s a law nobody knows: If you stand in the crowd too long, you lose your contours. They dissolve, pixel by pixel, color by color, until you’re just a fragment, a geometric echo in a sea of other echoes.
He noticed it first at Isartor. His nose—formerly proud and distinct—became transparent. He could see through it to the shoulder of the man in front of him. Then his right eye disappeared and appeared three heads away on a woman with a tired gaze. His mouth wandered to a teenager with headphones. The chin remained, but now it belonged to everyone simultaneously.
At Marienplatz half the train got off. Suddenly he had four eyes, but all looked in different directions. His cheek was turquoise from a student, his ear orange from a pensioner. The colors argued loudly about whom they actually belonged to. The yellow insisted it had originally been part of a tie. The green swore it had jumped off an umbrella.
At Donnersbergerbrücke he tried to recognize himself in the window. But the reflection showed only other people—or were they parts of him that had made themselves independent?
At the final station nobody got off. This was impossible, but it happened anyway. The train was empty, and he was still there—a face assembled from the forgotten colors of a hundred strangers who had long since gone home.
Dies ist ein DaDa-Projekt. Hör auf, nach Bedeutung zu suchen, denn es ist dada (sic!) driven. Genieße einfach für einen Moment die Reise deines Geistes.
This is a DaDa project. So stop searching for meaning, because it’s dada (sic!) driven. Just enjoy the journey of your mind for a moment.


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