GEDICHT / POEM
Der Mann, dessen Gesicht floss
Sein Gesicht war flüssig geworden zwischen Hackerbrücke und Hauptbahnhof. Nicht geschmolzen—geflossen, wie Farbe, die ihre Meinung ändert. Das Lila seiner Stirn wellte sich nach links, das Türkis seiner Wangen nach rechts, die Augen schwammen in verschiedene Richtungen davon.
Er versuchte, still zu sitzen, aber die Bewegung der Bahn machte aus seinem Gesicht einen Strudel. Jede Kurve drehte seine Nase um 90 Grad, jeder Halt ließ seine Lippen in neue Formen schwappen.
Die Frau neben ihm las Zeitung und bemerkte nichts— dass sein Kinn bereits bei ihren Füßen angekommen war, dass seine Augenbrauen an der Decke klebten.
Am Karlsplatz war er nur noch Bewegung. Kein Gesicht mehr, nur die Erinnerung daran, wie es sich anfühlte, Form zu haben— bevor die Geschwindigkeit ihn in Wellen verwandelte.
The Man Whose Face Flowed
His face had become liquid between Hackerbrücke and Hauptbahnhof. Not melted—flowed, like paint that changes its mind. The purple of his forehead rippled to the left, the turquoise of his cheeks to the right, the eyes swam away in different directions.
He tried to sit still, but the train’s movement turned his face into a whirlpool. Each curve rotated his nose by 90 degrees, each stop made his lips slosh into new shapes.
The woman next to him read the newspaper and noticed nothing— that his chin had already arrived at her feet, that his eyebrows stuck to the ceiling.
At Karlsplatz he was only movement. No longer a face, just the memory of what it felt like to have form— before velocity turned him into waves.
GESCHICHTE / STORY
Die Frequenz der Frau F.
Frau F. war allergisch gegen Stillstand. Jedes Mal, wenn die S-Bahn anhielt, begann ihr Gesicht zu vibrieren. Erst kaum merklich—ein leichtes Zittern in den Wangen, ein Flattern der Augenlider. Aber je länger der Zug stand, desto heftiger wurden die Schwingungen.
Bei Donnersbergerbrücke, wo die Bahn immer drei Minuten wartete, löste sich ihr ganzer Kopf in Wellen auf. Das Magenta ihrer Haut floss über ihre Schultern, das Türkis ihrer Augen lief ihr die Wangen hinunter wie neon-farbene Tränen. Ihr Mund öffnete sich in zwölf verschiedene Richtungen gleichzeitig, jede suchend nach einer Antwort auf eine Frage, die nie gestellt worden war.
Die anderen Fahrgäste ignorierten es. In der S-Bahn ignoriert man alles, was keine direkte Bedrohung darstellt. Und Frau F. war keine Bedrohung—sie war nur jemand, dessen Körper vergessen hatte, wie man solid bleibt.
Ein Physiker hatte ihr einmal erklärt: “Sie schwingen auf der Resonanzfrequenz der Bahn. 7.3 Hertz. Ihr Körper ist zur Antenne geworden.”
“Und was empfange ich?”, hatte sie gefragt.
“Die Ungeduld aller Fahrgäste gleichzeitig.”
Das erklärte vieles. Die Wellen, die durch ihr Gesicht liefen, waren nicht ihre eigenen Emotionen—es waren die der anderen. Das Lila war die Langeweile des Mannes mit dem Laptop. Das Rosa die Nervosität der Studentin mit dem zu schweren Rucksack. Das Türkis die Gleichgültigkeit des Teenagers mit den Kopfhörern.
Bei Marienplatz erreichte die Vibration ihren Höhepunkt. Ihr Gesicht war jetzt ein abstraktes Gemälde aus Bewegung—Augen, die spiralförmig in sich selbst versanken, Wangen, die sich wie Wasser bewegten, eine Nase, die ihre eigene Etymologie vergessen hatte.
Dann fuhr die Bahn wieder an.
Sofort gefror alles. Frau F.s Gesicht erstarrte in der genauen Form, die es im Moment der Beschleunigung hatte. Für 23 Sekunden war sie perfekt asymmetrisch—ihr linkes Auge dort, wo normalerweise das rechte Ohr sein sollte, ihr Mund verteilt über beide Wangen.
Bei der nächsten Haltestelle begann der Prozess von vorn.
Sie hatte aufgehört, sich darüber zu beschweren. Was sollte sie auch sagen? “Entschuldigung, Herr Schaffner, aber mein Gesicht gehorcht der Quantenmechanik statt der Biologie”?
Stattdessen fuhr sie einfach weiter. Von Pasing nach Ostbahnhof, von Morgen bis Abend, ein Gesicht, das niemals dieselbe Form zweimal annahm—ein lebendes Beweisstück dafür, dass Identität nur eine Form von Geschwindigkeit ist.
The Frequency of Ms. F.
Ms. F. was allergic to standstill. Every time the S-Bahn stopped, her face began to vibrate. At first barely noticeable—a slight tremor in the cheeks, a flutter of the eyelids. But the longer the train stood, the more violent the oscillations became.
At Donnersbergerbrücke, where the train always waited three minutes, her entire head dissolved into waves. The magenta of her skin flowed over her shoulders, the turquoise of her eyes ran down her cheeks like neon-colored tears. Her mouth opened in twelve different directions simultaneously, each searching for an answer to a question that had never been asked.
The other passengers ignored it. On the S-Bahn one ignores everything that isn’t a direct threat. And Ms. F. was no threat—she was just someone whose body had forgotten how to stay solid.
A physicist had once explained to her: “You oscillate at the resonance frequency of the train. 7.3 Hertz. Your body has become an antenna.”
“And what am I receiving?”, she had asked.
“The impatience of all passengers simultaneously.”
That explained a lot. The waves running through her face weren’t her own emotions—they were those of others. The purple was the boredom of the man with the laptop. The pink the nervousness of the student with the too-heavy backpack. The turquoise the indifference of the teenager with headphones.
At Marienplatz the vibration reached its peak. Her face was now an abstract painting of movement—eyes that sank spirally into themselves, cheeks that moved like water, a nose that had forgotten its own etymology.
Then the train started moving again.
Immediately everything froze. Ms. F.’s face solidified in the exact shape it had at the moment of acceleration. For 23 seconds she was perfectly asymmetrical—her left eye where normally the right ear should be, her mouth distributed across both cheeks.
At the next stop the process began anew.
She had stopped complaining about it. What should she say anyway? “Excuse me, conductor, but my face obeys quantum mechanics instead of biology”?
Instead she simply continued traveling. From Pasing to Ostbahnhof, from morning to evening, a face that never assumed the same form twice—living proof that identity is just a form of velocity.
Dies ist ein DaDa-Projekt. Hör auf, nach Bedeutung zu suchen, denn es ist dada (sic!) driven. Genieße einfach für einen Moment die Reise deines Geistes.
This is a DaDa project. So stop searching for meaning, because it’s dada (sic!) driven. Just enjoy the journey of your mind for a moment.


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