GEDICHT / POEM
Die Migräne der Medusa
Ihr Kopf war ein Unwetter aus Linien. Jede Strähne ein Blitz, der sich selbst vergaß, jeder Gedanke ein Schatten, der in die falsche Richtung fiel. Die Augen—zwei weiße Löcher, wo früher Sehen war.
Bei Laim begann die Migräne. Erst ein leises Flimmern am Rand der Welt, dann ein Stechen, das ihre Schläfen in Schraffuren verwandelte. Ihr Gesicht zerbrach in tausend kleine Bleistiftstriche, jeder eine andere Art von Schmerz.
Sie starrte niemanden an, aber alle wurden zu Stein— nicht aus Fluch, sondern aus Mitleid, weil sie nicht wussten, wie man ein Gesicht anspricht, das sich selbst nicht mehr erkennt.
Am Hauptbahnhof löste sich ihr Kopf in reine Schraffur auf. Schwarz-weiß, ohne Farbe, ohne Trost— nur die Erinnerung daran, wie es sich anfühlte, einen Körper zu haben, der nicht gegen sich selbst kämpfte.
The Migraine of Medusa
Her head was a thunderstorm of lines. Each strand a lightning bolt that forgot itself, each thought a shadow falling in the wrong direction. The eyes—two white holes where seeing used to be.
At Laim the migraine began. First a quiet shimmer at the edge of the world, then a stabbing that turned her temples into crosshatching. Her face shattered into a thousand small pencil strokes, each one a different kind of pain.
She stared at no one, but everyone turned to stone— not from a curse, but from pity, because they didn’t know how to address a face that no longer recognized itself.
At Hauptbahnhof her head dissolved into pure hatching. Black and white, without color, without comfort— only the memory of what it felt like to have a body that didn’t fight against itself.
GESCHICHTE / STORY
Die Frau, die Stein sah
Sie hatte Medusas Fluch geerbt, aber umgekehrt. Nicht ihr Blick verwandelte andere in Stein—ihr Schmerz verwandelte die Welt in Linien. Schwarz-weiße Linien, scharf wie Rasierklingen, die sich in ihr Sehfeld schnitten.
Es begann immer zwischen Pasing und Laim. Erst ein Flackern am Rand ihrer Augen, dann ein Pulsieren hinter der Stirn, schließlich die totale Fragmentierung. Die S-Bahn wurde zu einem Gewirr aus Schraffuren, die Mitreisenden zu skizzierten Schatten, ihr eigenes Gesicht—das sie im Fenster zu sehen versuchte—zu einem chaotischen Wirbel aus Strichen.
“Entschuldigung”, flüsterte sie dem Mann neben ihr zu, “können Sie mich sehen?”
Er schaute sie an und erstarrte. Nicht physisch—er bewegte sich noch, atmete noch—aber etwas in ihm wurde zu Stein. Die Fähigkeit zu antworten, die Fähigkeit zu verstehen, die Fähigkeit, ein Gesicht zu erkennen, das aus purem Schmerz gezeichnet war.
Die Migräne der Medusa war keine Strafe. Es war eine Art zu sehen. Wenn der Schmerz seinen Höhepunkt erreichte, konnte sie durch die Oberfläche der Dinge hindurchblicken. Die S-Bahn war keine S-Bahn mehr—sie war ein Netzwerk aus Ängsten, gezeichnet in schwarzen Linien. Der Mann mit der Zeitung war keine Person—er war ein Bündel aus unterdrückten Träumen, schraffiert in verschiedene Grautöne.
Ihr eigenes Gesicht—das sie jetzt im metallenen Türrahmen sah—war ein Sturm. Die Haare waren keine Schlangen, aber sie bewegten sich trotzdem, jede Strähne ein eigenständiger Gedanke, der versuchte zu fliehen. Die Augen waren leer, weil Sehen zu schmerzhaft geworden war. Der Mund—ein weißer Fleck in einem Meer aus Schwarz—öffnete sich, um zu schreien, aber kein Ton kam heraus.
Nur Linien. Immer mehr Linien.
Bei Donnersbergerbrücke erreichte die Migräne ihren Zenit. Ihr Kopf war jetzt nur noch Bewegung—ein wirbelndes Chaos aus Schraffuren, die versuchten, eine Form zu finden, aber keine fanden. Sie war Medusa ohne Gesicht, nur Schmerz mit Bewusstsein.
“Nächster Halt: Hauptbahnhof.”
Die Durchsage riss sie zurück. Langsam, sehr langsam, fügte sich ihr Gesicht wieder zusammen. Die Linien ordneten sich, die Schatten fanden ihre Plätze, die Augen—die leeren, weißen Augen—lernten wieder, nach außen zu schauen statt nach innen.
Sie stieg aus. Niemand bemerkte, dass sie beim Gehen keine Schatten warf. Niemand sah, dass ihre Fußspuren auf dem Bahnsteig aus reinen Bleistiftstrichen bestanden.
Am nächsten Morgen würde sie wieder einsteigen. Die Migräne würde wiederkommen. Sie würde wieder zu Linien werden, wieder zu Schraffur, wieder zu einem Gesicht, das nur aus der Erinnerung an Schmerz bestand.
Aber für jetzt, für diese wenigen Minuten zwischen den Anfällen, war sie wieder sichtbar. Eine Frau in der S-Bahn. Eine Frau mit einem Gesicht. Eine Frau, die vergessen hatte, dass Medusas wahre Strafe nicht war, andere zu versteinern—sondern selbst nie still sein zu können.
The Woman Who Saw Stone
She had inherited Medusa’s curse, but reversed. Not her gaze turned others to stone—her pain turned the world into lines. Black and white lines, sharp as razor blades, cutting into her field of vision.
It always began between Pasing and Laim. First a flicker at the edge of her eyes, then a pulsing behind the forehead, finally total fragmentation. The S-Bahn became a tangle of crosshatching, fellow passengers sketched shadows, her own face—which she tried to see in the window—a chaotic swirl of strokes.
“Excuse me,” she whispered to the man beside her, “can you see me?”
He looked at her and froze. Not physically—he still moved, still breathed—but something in him turned to stone. The ability to answer, the ability to understand, the ability to recognize a face drawn from pure pain.
The migraine of Medusa was no punishment. It was a way of seeing. When the pain reached its peak, she could see through the surface of things. The S-Bahn was no longer an S-Bahn—it was a network of fears, drawn in black lines. The man with the newspaper was no person—he was a bundle of suppressed dreams, crosshatched in different shades of gray.
Her own face—which she now saw in the metallic door frame—was a storm. The hair wasn’t snakes, but it moved anyway, each strand an independent thought trying to escape. The eyes were empty because seeing had become too painful. The mouth—a white spot in a sea of black—opened to scream, but no sound came out.
Only lines. More and more lines.
At Donnersbergerbrücke the migraine reached its zenith. Her head was now only movement—a swirling chaos of crosshatching trying to find a form but finding none. She was Medusa without a face, only pain with consciousness.
“Next stop: Hauptbahnhof.”
The announcement tore her back. Slowly, very slowly, her face reassembled itself. The lines arranged themselves, the shadows found their places, the eyes—the empty, white eyes—learned again to look outward instead of inward.
She got off. Nobody noticed that she cast no shadow while walking. Nobody saw that her footprints on the platform consisted of pure pencil strokes.
The next morning she would board again. The migraine would return. She would become lines again, crosshatching again, a face that existed only from the memory of pain.
But for now, for these few minutes between attacks, she was visible again. A woman on the S-Bahn. A woman with a face. A woman who had forgotten that Medusa’s true punishment wasn’t turning others to stone—but never being able to be still herself.
Dies ist ein DaDa-Projekt. Hör auf, nach Bedeutung zu suchen, denn es ist dada (sic!) driven. Genieße einfach für einen Moment die Reise deines Geistes.
This is a DaDa project. So stop searching for meaning, because it’s dada (sic!) driven. Just enjoy the journey of your mind for a moment.


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