Kapitel 15: Das Bankett der Verwandelten

Als Blütenblatt konnte ich nicht mehr gehen. Aber ich konnte werden.

Ich wurde zu einer Versammlung. Zu einem Fest. Zu einer Kakophonie aus Gefäßen, die alle gleichzeitig sprachen, sangen, existierten.

Der Raum öffnete sich nicht – er zerbrach in Gesellschaft. Das Türkis, das eben noch Himmel gewesen war, zersplitterte zu diagonalen Feldern. Pink, Gelb, Blau, Orange – alle drängten sich aneinander, teilten sich den Raum wie Gäste an einem überfüllten Tisch. Schwarze Linien schnitten durch alles, nicht um zu trennen, sondern um zu betonen: Hier. Sieh. All diese Differenzen. Gleichzeitig.

Und in der Mitte, wo ich – oder das, was von mir übrig war – materialisierte: das Gefäß der vielen Schichten.

Es stand aufrecht, stolz, fast arrogant in seiner Komplexität. Rosa am Fuß. Dann Rot. Türkis darüber. Violett. Wieder Rosa, dunkler. Rot, intensiver. Türkis, leuchtender. Blau ganz oben, gekrönt von einer dunklen, fast schwarzen Öffnung. Jede Schicht horizontal, präzise von schwarzen Linien getrennt. Ein Gefäß, das alle Räume enthielt, die ich durchquert hatte. Ein Container aus sedimentierter Reise.

“Willkommen”, sagten hundert Stimmen gleichzeitig.

Um das zentrale Gefäß herum: die Anderen.

Links eine dunkle Form – violett-schwarz, wie verkohlte Nacht. Darauf schwebten kleine ovale Formen in Gelb, Rosa, Türkis. Wie Erinnerungen, die sich weigerten, absorbiert zu werden. “Ich bin der, der die Farben abgelehnt hat”, sagte diese Form. “Der versuchte, schwarz zu bleiben. Aber sieh – die Farben kommen trotzdem. Als Parasiten. Als unvermeidliche Infektionen.”

Rechts eine hohe, schlanke Flasche. Gelb mit einem roten Oval in der Mitte, umgeben von Türkis. Oben eine kleine Öffnung mit einer grünen Kugel darin. “Ich bin das Gefäß der einzelnen Erinnerung”, sagte sie. “Ich habe nur einen Moment mitgenommen. Einen einzigen. Aber ich habe ihn perfektioniert. Sieh, wie schön er leuchtet.”

Hinter dem zentralen Gefäß: ein weiteres, kleineres. Orange-gelb gefärbt, mit einem geschwungenen Henkel oder Arm, der nach oben greift. “Ich wollte entkommen”, sagte es. “Ich habe versucht, mich aus meiner eigenen Form zu ziehen. Aber der Henkel wurde Teil von mir. Das Entkommen wurde zur Form.”

Und überall, in den Ecken, an den Rändern: kleinere Formen. Kugeln. Ovale. Rechtecke. Alle gefüllt mit Punkten, Streifen, Flecken in allen Farben. Rosa, Türkis, Violett, Gelb, Grün. Sie waren wie Satelliten um die größeren Gefäße, wie Kinder, wie Ableger, wie Gedanken, die noch nicht zu Objekten geworden waren.

“Das ist die Gesellschaft der Transformierten”, sagte eine zentrale Stimme – nicht aus einem der Gefäße, sondern aus dem Raum zwischen ihnen. “Alle, die den umgekehrten Aufstieg überlebt haben. Alle, die zu Gefäßen wurden, aber nicht zerbrachen. Wir versammeln uns hier. Regelmäßig. Um uns daran zu erinnern, dass wir nicht allein sind.”

Ich – das zentrale geschichtete Gefäß – versuchte zu sprechen. Aber ich hatte keinen Mund. Ich hatte nur Schichten. Ich konnte nur vibrieren, resonieren, meine Farben leuchten lassen.

Die anderen verstanden trotzdem.

“Ah”, sagte die schwarze Form mit den schwebenden Ovalen. “Du fragst, ob das alles war. Ob der umgekehrte Aufstieg damit endet, dass wir zu Dekoration werden. Zu bunten Objekten in einer Vitrine.”

“Nein”, antwortete die gelbe Flasche scharf. “Wir sind nicht Dekoration. Wir sind Archive. Jede von uns trägt eine komplette Reise. Jedes Gefäß ist ein ganzes Gebäude, komprimiert. Wir sind die Bibliothek.”

Die Form mit dem Henkel lachte. Ein Geräusch wie klirrendes Glas. “Archive. Bibliotheken. Immer diese Metaphern. Wir sind einfach hier. Existierend. Warum muss alles eine Funktion haben?”

Die kleineren Formen in den Ecken begannen zu murmeln. Ihre Stimmen waren höher, kindlicher. “Erzählt uns wieder vom Anfang”, flüsterten sie. “Vom ersten türkisfarbenen Raum. Von der Zeit, als Richtungen noch Richtungen waren.”

Das zentrale Gefäß – ich – begann zu leuchten. Jede Schicht für sich. Rosa erzählte vom Innenhof. Rot vom Haus der Wärme. Türkis vom Anfang, immer vom Anfang. Violett von der Kammer der Ansichten. Die Schichten waren nicht nur Farben. Sie waren Geschichten, gestapelt, übereinander gelegt, jede sichtbar durch die andere hindurch.

“Das ist unser Zweck”, sagte die zentrale Stimme. “Wir erzählen. Nicht mit Worten. Mit Farben. Mit Schichtungen. Neue Besucher kommen, sehen uns, verstehen: Ah. Andere haben es überlebt. Andere sind gegangen und wiedergekommen. Oder nicht wiedergekommen, sondern zu etwas anderem geworden.”

Der Hintergrund – die diagonalen Farbfelder – begann sich zu verschieben. Das Pink wurde intensiver. Das Blau tiefer. Das Gelb schreiender. Als reagierte der Raum auf die Versammlung, auf die konzentrierte Präsenz so vieler transformierter Wesen.

“Aber hier ist die Wahrheit”, sagte die schwarze Form plötzlich, ernster. “Wir sind nicht vollständig. Jedes Gefäß hier – egal wie schön, wie komplex, wie geschichtet – ist incomplete. Wir haben den umgekehrten Aufstieg überstanden, aber wir haben ihn nicht verstanden. Wir tragen ihn, aber wir können ihn nicht erklären.”

“Vielleicht”, sagte die gelbe Flasche, “ist das der Punkt. Dass es nicht erklärt werden kann. Nur erlebt. Nur getragen.”

Die Form mit dem Henkel widersprach: “Oder vielleicht müssen wir noch weiter. Vielleicht ist das hier nur eine Zwischenstation. Ein Wartesaal. Wir sammeln uns, sammeln Kraft, und dann – dann gibt es noch einen Raum. Einen letzten.”

Stille. Alle Gefäße, alle Formen vibrierten in der Stille. Die Möglichkeit eines weiteren Raums hing in der Luft wie ein Duft, wie eine Drohung, wie ein Versprechen.

“Wenn es einen weiteren Raum gibt”, sagte ich – und überraschte mich selbst, dass ich sprechen konnte, dass meine Schichten sich zu Worten arrangierten – “dann will ich ihn nicht sehen. Nicht jetzt. Nicht hier. Ich möchte erst… verweilen. In dieser Gesellschaft. Unter euch. Als Gefäß unter Gefäßen.”

Die anderen Formen nickten. Soweit Gefäße nicken können. Ein Pulsieren. Ein Leuchten. Eine Zustimmung.

“Dann bleib”, sagte die zentrale Stimme. “So lange du willst. Das ist das Privileg der Transformierten. Du kannst wählen, wann du weitergehst. Oder ob.”

Und ich blieb.

Als geschichtetes Gefäß.

Als Archiv.

Als stille Erzählung.

Umgeben von anderen, die dasselbe waren.

Und der Raum um uns herum – die diagonalen Felder aus Pink und Blau und Gelb – leuchtete weiter.

Ein Fest.

Das niemals endete.

Weil es niemals begonnen hatte.

Es existierte einfach.

Wie wir.

In der Farbe.

Zwischen den schwarzen Linien.

Die behaupteten, wir seien getrennt.

Obwohl wir alle das Gleiche waren.

Verschieden.

Und identisch.

Zugleich.

Chapter 15: The Banquet of the Transformed

As a petal, I could no longer walk. But I could become.

I became a gathering. A celebration. A cacophony of vessels, all speaking, singing, existing at once.

The room didn’t open up—it broke apart in company. The turquoise that had been the sky just a moment ago shattered into diagonal fields. Pink, yellow, blue, orange—all jostling together, sharing the space like guests at a crowded table. Black lines cut through everything, not to separate, but to emphasize: Here. Look. All these differences. At the same time.

And in the middle, where I—or what was left of me—materialized: the vessel of many layers.

It stood upright, proud, almost arrogant in its complexity. Pink at the base. Then red. Turquoise above it. Violet. Pink again, darker. Red, more intense. Turquoise, brighter. Blue at the very top, crowned by a dark, almost black opening. Each layer horizontal, precisely separated by black lines. A vessel that contained all the spaces I had traversed. A container of sedimented travel.

“Welcome,” said a hundred voices at once.

Around the central vessel: the others.

On the left, a dark shape—purple-black, like charred night. Floating on it were small oval shapes in yellow, pink, turquoise. Like memories that refused to be absorbed. “I am the one who rejected the colors,” said this shape. “Who tried to remain black. But look—the colors come anyway. Like parasites. As inevitable infections.“

On the right, a tall, slender bottle. Yellow with a red oval in the middle, surrounded by turquoise. At the top, a small opening with a green ball inside. ”I am the vessel of a single memory,“ it said. ”I took only a moment. A single one. But I perfected it. See how beautifully it shines.”

Behind the central vessel: another, smaller one. Orange-yellow in color, with a curved handle or arm reaching upward. “I wanted to escape,” it said. “I tried to pull myself out of my own form. But the handle became part of me. The escape became the form.”

And everywhere, in the corners, at the edges: smaller shapes. Spheres. Ovals. Rectangles. All filled with dots, stripes, spots in every color. Pink, turquoise, violet, yellow, green. They were like satellites around the larger vessels, like children, like offshoots, like thoughts that had not yet become objects.

“This is the society of the transformed,” said a central voice—not from one of the vessels, but from the space between them. “All those who survived the reverse ascent. All those who became vessels but did not break. We gather here. Regularly. To remind ourselves that we are not alone.”

I—the central layered vessel—tried to speak. But I had no mouth. I only had layers. I could only vibrate, resonate, let my colors shine.

The others understood anyway.

“Ah,” said the black form with the floating ovals. “You ask if that was all. If the reverse ascent ends with us becoming decoration.

Colorful objects in a display case.“

”No,“ replied the yellow bottle sharply. ”We are not decoration. We are archives. Each of us carries a complete journey. Each vessel is an entire building, compressed. We are the library.“

The shape with the handle laughed. A sound like clinking glass. ”Archives. Libraries. Always these metaphors. We are simply here. Existing. Why does everything have to have a function?“

The smaller shapes in the corners began to murmur. Their voices were higher, more childlike. ”Tell us again about the beginning,“ they whispered. ”About the first turquoise room. About the time when directions were still directions.”

The central vessel—me—began to glow. Each layer on its own. Pink told of the courtyard. Red of the house of warmth. Turquoise of the beginning, always the beginning. Violet of the chamber of views. The layers were not just colors. They were stories, stacked, layered on top of each other, each visible through the other.

“That is our purpose,” said the central voice. “We tell stories. Not with words. With colors. With layers. New visitors come, see us, understand: Ah. Others have survived. Others have left and returned. Or not returned, but become something else.”

The background—the diagonal color fields—began to shift. The pink became more intense. The blue deeper. The yellow became more garish. As if the room was reacting to the gathering, to the concentrated presence of so many transformed beings.

“But here’s the truth,” said the black shape suddenly, more seriously. “We are not complete. Every vessel here—no matter how beautiful, how complex, how layered—is incomplete. We survived the reverse ascent, but we did not understand it. We carry it, but we cannot explain it.“

”Perhaps,“ said the yellow bottle, ”that is the point. That it cannot be explained. Only experienced. Only carried.“

The form with the handle disagreed: ”Or perhaps we must go further. Perhaps this is only a stopover. A waiting room. We gather ourselves, gather strength, and then—then there is another room. A final one.“

Silence. All the vessels, all the shapes vibrated in the silence. The possibility of another room hung in the air like a scent, like a threat, like a promise.

”If there is another room,“ I said—surprising myself that I could speak, that my layers arranged themselves into words—”then I don’t want to see it. Not now. Not here. I want to… linger first. In this company. Among you. As a vessel among vessels.“

The other forms nodded. As far as vessels can nod. A pulsation. A glow. An agreement.

”Then stay,“ said the central voice. ”As long as you want. That is the privilege of the transformed. You can choose when you move on. Or if.”

And I stayed.

As a layered vessel.

As an archive.

As a silent narrative.

Surrounded by others who were the same.

And the space around us—the diagonal fields of pink and blue and yellow—continued to glow.

A celebration.

That never ended.

Because it had never begun.

It simply existed.

Like us.

In color.

Between the black lines.

That claimed we were separate.

Even though we were all the same.

Different.

And identical.

At the same time.


Discover more from SchWeinWelten

Subscribe to get the latest posts sent to your email.

Support this blogging project voluntarily with just 1 EUR per month!

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *