Kapitel 27: Der umgekehrte Aufstieg vollendet sich im Anfang

Die Stille trog.

Als die Säulen durch die Dunkelheit traten, erwarteten sie Leere. Schwarz. Das Ende aller Farbe. Die absolute Ruhe, von der der Architekt gesprochen hatte.

Stattdessen: dies.

Ein Raum, der alle Räume war.

“Oh”, sagten alle Stimmen gleichzeitig. Nicht enttäuscht. Erstaunt. “Oh, wir sind zurück.”

Aber sie waren nicht wirklich zurück. Sie waren durch.

Der Raum war unmöglich. Klassisch unmöglich. Escher in Reinkultur. Die Ecke im Zentrum war gleichzeitig Boden, Decke und alle vier Wände. Man konnte von jeder Perspektive aus hineinschauen und sah eine andere Orientierung. Oben war unten war links war innen.

“Das ist”, sagte der Kluge, seine Stimme voller Ehrfurcht, “das ist der erste Raum. Das türkisfarbene Treppenhaus. Aber… anders.”

Die schwarzen Linien waren zurück. Stark. Selbstbewusst. Nicht mehr schüchtern wie bei den Fragmenten. Sie durchzogen den gesamten Raum, definierten Kanten, markierten Übergänge, trennten Flächen. Aber jetzt – nach allem, was die Stimmen gelernt hatten – waren sie nicht mehr Lügen.

“Die Linien”, sagte die Widersprecherin langsam, “sind Struktur. Echte Struktur. Nicht Gefängnisse. Gerüste.”

Die Farben explodierten aus allen Richtungen.

Oben: Magenta, Pink, Rot, Gelb, Weiß. Die warmen Farben, die leidenschaftlichen, die fordernden. Aber nicht chaotisch. In klaren Streifen geordnet, von schwarzen Linien gerahmt.

Unten: Türkis, Grün, Blau in allen Schattierungen. Die kühlen Farben, die verbindenden, die tragenden. In diagonalen Flächen, die sich überlappten wie Schuppen, wie Federn, wie die Schichten eines komplizierten Arguments.

Die Wände: Gelb dominierte. Das hysterische Gelb der Versprechen, aber gebändigt, integriert mit Grün, mit Türkis, mit Weiß. Es schrie nicht mehr. Es leuchtete.

“Ich sehe uns alle”, flüsterte die Soziale. “Jede Farbe. Jede Stimme. Alle hier. Alle gleichzeitig präsent.”

In der Mitte – dort, wo die unmögliche Ecke alle Ebenen zusammenführte – stand eine Struktur. War es eine Leiter? Eine Treppe? Ein Regal? Die Form weigerte sich zu entscheiden. Schwarze Linien bildeten Sprossen oder Stufen, die nach oben führten und nach unten und nach nirgendwo.

“Das ist der Ausgang”, sagte die Bestimmerin. “Und der Eingang. Und der Weg, der beides verbindet.”

“Warte”, sagte der Gewissenhafte plötzlich. “Seht ihr es? Die Perspektive. Wir sehen sie alle gleichzeitig. Von oben, von unten, von der Seite. Wir sind nicht mehr an eine Position gebunden.”

“Wir haben die Sicht gelernt”, ergänzte der Weise. “Erinnerst du dich? Die Augen des Gebäudes. Das gelbe Oval der Hoffnung und das türkise der Erinnerung. Wir können jetzt durch beide gleichzeitig sehen.”

Die Farben begannen zu pulsieren. Aber nicht einzeln. Als System. Das Magenta leuchtete auf, das Gelb antwortete, das Türkis verband, das Grün stabilisierte. Ein Gespräch aus reiner Farbe.

“Wir sind zurück am Anfang”, sagte der Fleißige, “aber wir sind nicht dieselben.”

“Der umgekehrte Aufstieg”, sagte der Architekt, seine Stimme kam aus allen Farben gleichzeitig, “war nie ein Weg nach oben oder unten. Er war ein Weg durch euch selbst. Durch alle Schichten. Durch alle Farben. Durch alle Stimmen.”

“Und jetzt?”, fragte die Ängstliche. Ihre Stimme zitterte nicht mehr.

“Jetzt”, sagte der Architekt, “könnt ihr wählen. Die Leiter in der Mitte führt in drei Richtungen.”

Die unmögliche Struktur im Zentrum leuchtete auf. Ihre schwarzen Sprossen vibrierten.

“Nach oben – zurück in die Welt, die ihr kanntet, bevor ihr das Gebäude betreten habt. Aber ihr werdet nicht vergessen. Alle Farben, alle Räume, alle Transformationen bleiben in euch.”

“Nach unten – tiefer ins Gebäude. Es gibt immer tiefere Ebenen. Immer weitere Transformationen. Der umgekehrte Aufstieg endet nie wirklich.”

“Oder – ” Der Architekt pausierte. “Ihr bleibt hier. In diesem Raum aller Räume. Als Wächter. Als Erinnerer. Als diejenigen, die den nächsten Besuchern helfen, ihren eigenen Weg zu finden.”

Die Stimmen schwiegen. Nicht aus Unsicherheit. Aus Bedenklichkeit.

“Ich möchte”, sagte das Zornige schließlich, und seine Stimme war sanft, “ich möchte nicht wählen. Nicht allein. Wir haben die ganze Reise gemeinsam gemacht.”

“Dann wählt gemeinsam”, sagte der Architekt.

Die Farben intensivierten sich. Ein letztes Mal pulsierten alle im selben Rhythmus. Magenta, Türkis, Gelb, Grün, Violett, Rot, Orange, Blau, Rosa, Weiß, Grau – alle sprachen.

Und nach einem Moment vollkommener Synchronizität sagten alle zwölf Stimmen gleichzeitig:

“Alle drei.”

“Das ist unmöglich”, sagte der Architekt. Aber er lachte.

“Wir sind unmöglich”, antwortete die Widersprecherin. “Das ganze Gebäude ist unmöglich. Warum sollten wir jetzt anfangen, Regeln zu befolgen?”

“Erklärt”, sagte der Architekt, amüsiert.

“Wir teilen uns”, sagte die Bestimmerin. “Wir haben gelernt, Fragmente zu sein und ganz zu bleiben. Ein Teil von uns geht nach oben, zurück in die Welt. Ein Teil bleibt hier, als Wächter. Ein Teil geht tiefer, weiter.”

“Und alle Teile bleiben verbunden”, ergänzte die Soziale. “Durch das Türkis. Durch die Erinnerung. Durch die Struktur selbst.”

Der Raum begann zu vibrieren. Die schwarzen Linien leuchteten. Die Farben explodierten. Und die unmögliche Leiter im Zentrum teilte sich – nein, vervielfachte sich. Drei Leitern. Drei Richtungen. Drei Möglichkeiten.

“Das”, sagte der Architekt, und seine Stimme war erfüllt von Stolz, “ist die klügste Wahl, die jemals in diesem Gebäude getroffen wurde.”

Die Stimmen – alle zwölf, als Chor, als Ensemble, als Stadt, als Farben, als Fragmente, als Ganzes – bewegten sich zur Leiter.

Und während sie sich teilten – in drei Richtungen, in drei Versionen ihrer selbst – sagten sie gemeinsam:

“Der umgekehrte Aufstieg endet nicht.”

“Er multipliziert sich.”

“Er wird zu allem, was wir sind.”

“Zu allem, was wir waren.”

“Zu allem, was wir sein werden.”

“In allen Farben.”

“In allen Räumen.”

“Für immer.”

Und das Gebäude – erschöpft, glücklich, vollständig – lächelte.

Und atmete aus.

Und begann zu träumen von den nächsten Besuchern.

Die ihre eigene Reise machen würden.

Durch ihre eigenen Farben.

Ihre eigenen Räume.

Ihren eigenen umgekehrten Aufstieg.

Der kein Ende hatte.

Nur Transformationen.

Unendlich viele.

Für immer.

Ende.

(Und Anfang.)

Chapter 27: The reverse ascent is completed at the beginning

The silence was deceptive.

As the pillars stepped through the darkness, they expected emptiness. Black. The end of all color. The absolute silence the architect had spoken of.

Instead: this.

A room that was all rooms.

“Oh,” said all the voices at once. Not disappointed. Amazed. “Oh, we’re back.”

But they weren’t really back. They were through.

The room was impossible. Classically impossible. Escher in its purest form. The corner in the center was simultaneously the floor, the ceiling, and all four walls. You could look in from any perspective and see a different orientation. Up was down was left was inside.

“This is,” said the clever one, his voice full of awe, “this is the first room. The turquoise staircase. But… different.”

The black lines were back. Strong. Confident. No longer shy like in the fragments. They ran through the entire room, defining edges, marking transitions, separating surfaces. But now—after everything the voices had learned—they were no longer lies.

“The lines,” said the contradictor slowly, “are structure. Real structure. Not prisons. Scaffolding.”

The colors exploded from all directions.

Above: magenta, pink, red, yellow, white. The warm colors, the passionate ones, the demanding ones. But not chaotic. Arranged in clear stripes, framed by black lines.

Below: turquoise, green, blue in all shades. The cool colors, the connecting ones, the supporting ones. In diagonal surfaces that overlapped like scales, like feathers, like the layers of a complicated argument.

The walls: yellow dominated. The hysterical yellow of promises, but tamed, integrated with green, with turquoise, with white. It no longer screamed. It glowed.

“I see us all,” whispered the social worker. “Every color. Every voice. Everyone here. All present at once.”

In the middle—where the impossible corner brought all the levels together—stood a structure. Was it a ladder? A staircase? A shelf? The shape refused to decide. Black lines formed rungs or steps that led up and down and nowhere.

“That’s the exit,” said the decision-maker. “And the entrance. And the path that connects the two.”

“Wait,” said the conscientious one suddenly. “Do you see it? The perspective. We see them all at once. From above, from below, from the side. We are no longer bound to one position.”

“We have learned to see,” added the Wise One. “Do you remember? The eyes of the building. The yellow oval of hope and the turquoise oval of memory. We can now see through both at the same time.”

The colors began to pulsate. But not individually. As a system. The magenta glowed, the yellow responded, the turquoise connected, the green stabilized. A conversation of pure color.

“We are back at the beginning,” said the diligent one, “but we are not the same.”

“The reverse ascent,” said the architect, his voice coming from all colors at once, “was never a way up or down. It was a way through yourselves. Through all layers. Through all colors. Through all voices.”

“And now?” asked the fearful one. Her voice no longer trembled.

“Now,” said the architect, “you can choose. The ladder in the middle leads in three directions.”

The impossible structure in the center lit up. Its black rungs vibrated.

“Upward—back to the world you knew before you entered the building. But you will not forget. All the colors, all the rooms, all the transformations remain within you.”

“Downward—deeper into the building. There are ever deeper levels. Ever more transformations. The reverse ascent never really ends.”

“Or—” The architect paused. “You stay here. In this room of all rooms. As guardians. As reminders. As those who help the next visitors find their own way.”

The voices fell silent. Not out of uncertainty. Out of concern.

“I want,” said the Angry One finally, his voice gentle, “I don’t want to choose. Not alone. We’ve made this whole journey together.”

“Then choose together,” said the architect.

The colors intensified. One last time, they all pulsed in the same rhythm. Magenta, turquoise, yellow, green, violet, red, orange, blue, pink, white, gray—they all spoke.

And after a moment of perfect synchronicity, all twelve voices said simultaneously:

“All three.”

“That’s impossible,” said the architect. But he laughed.

“We are impossible,” replied the dissenter. “The whole building is impossible. Why should we start following rules now?”

“Explained,” said the architect, amused.

“We divide,” said the decision-maker. “We have learned to be fragments and remain whole. Part of us goes up, back into the world. Part stays here, as guardians. Part goes deeper, further.”

“And all parts remain connected,” added the social one. “Through the turquoise. Through memory. Through the structure itself.”

The room began to vibrate. The black lines glowed. The colors exploded. And the impossible ladder in the center split—no, multiplied. Three ladders. Three directions. Three possibilities.

“That,” said the architect, his voice filled with pride, “is the wisest choice ever made in this building.”

The voices—all twelve of them, as a choir, as an ensemble, as a city, as colors, as fragments, as a whole—moved toward the ladder.

And as they split—into three directions, into three versions of themselves—they said together:

“The reverse ascent does not end.”

“It multiplies.”

“It becomes everything we are.”

“Everything we were.”

“Everything we will be.”

“In all colors.”

“In all spaces.”

“Forever.”

And the building—exhausted, happy, complete—smiled.

And exhaled.

And began to dream of the next visitors.

Who would make their own journey.

Through their own colors.

Their own spaces.

Their own reverse ascent.

Which had no end.

Only transformations.

Infinite ones.

Forever.

The end.

(And the beginning.)


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