Das Gelb brüllte mich an, bevor ich es sah.
Es roch nach verbranntem Honig, nach überhitztem Metall, nach Sommer, der zu lange gedauert hatte. Ein stechender, durchdringender Geruch, der sich in die Nasenschleimhäute fraß und dort blieb wie eine Warnung.
Der Korridor erstreckte sich vor mir – eng, lang, unmöglich lang. Die Perspektive war falsch, wie durch ein verzerrtes Objektiv gesehen. Er wurde nicht schmaler, je weiter er führte, er wurde dichter. Die Entfernung zwischen hier und dort war nicht räumlich, sondern substanziell. Mit jedem Meter, den ich sah, fügte das Gebäude weitere Meter hinzu, als wolle es sicherstellen, dass das Ende niemals erreicht würde.
Über mir hing die Decke wie ein Patchwork aus Verzweiflung. Gelb, dominant und aufdringlich. Orange, rostig wie altes Blut. Braun, die Farbe von Verwesung. Die Blöcke waren ungleichmäßig, passten nicht zueinander, hatten aber aufgehört, sich darum zu kümmern. Sie lagen einfach da, aufeinandergeschichtet, zu müde, um sich in Ordnung zu fügen.
Die Wände waren ein Schlachtfeld der Farben. Gelb kämpfte gegen Türkis. Blau gegen Orange. Schwarz teilte alles, schnitt durch jede Fläche wie ein Messer, das vergessen hatte aufzuhören. Rosa schimmerte in den Ecken, verlegen, fehl am Platz, als wäre es hier, weil es nirgendwo sonst hin konnte.
Der Boden aber – der Boden war eine Lüge.
Er bestand aus Streifen. Gelb, hellblau, türkis, wieder gelb, schwarz. Sie lagen parallel, liefen schnurgerade in die Tiefe, versprachen Richtung, Fortschritt, ein Ziel. Aber mit jedem Schritt, den ich tat, verschoben sich die Streifen unmerklich zur Seite. Sie blieben parallel, aber nicht zu mir. Sie waren parallel zu etwas anderem, zu einer Achse, die ich nicht sehen konnte.
Ich ging. Weil es keine Alternative gab. Der Korridor hinter mir hatte sich bereits geschlossen – nicht mit einer Wand, sondern mit Vergessen. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, durch welche Öffnung ich gekommen war. Der Raum hatte die Erinnerung aufgefressen.
Das Gelb intensivierte sich. Es kam von allen Seiten, brannte sich in die Netzhaut. Eine Farbe wie ein Befehl. Geh weiter. Geh schneller. Flieh. Aber wovor? Das Gelb selbst war die Gefahr. Die Flucht war das, was jagte.
“Du bist im Korridor der Versprechen”, sagte eine Stimme. Diesmal kam sie nicht von den Wänden, sondern aus dem Boden selbst. Tief, vibrierend, als spräche die Erde unter ihrem eigenen Gewicht. “Hier hat der Architekt seine Hoffnungen gelagert. Alle Hoffnungen, die er je hatte, bevor er verstand, dass Hoffnung ein strukturelles Problem ist.”
“Was für Hoffnungen?”
“Auf ein Ende. Auf einen Ausgang. Auf einen Raum, der einfach nur ein Raum sein würde, ohne Mehrdeutigkeit, ohne Falten. Er hat das Gelb gewählt, weil Gelb optimistisch wirkt. Siehst du, wie gut das funktioniert hat?”
Das Gelb war nicht optimistisch. Es war hysterisch. Es schrie um Aufmerksamkeit, um Bedeutung, um einen Zweck, den es nie erfüllen würde. Es war die Farbe von Dingen, die vorgeben, zu helfen, aber nur im Weg stehen.
Die Wände zu beiden Seiten waren nicht glatt. Sie bestanden aus eingefügten Rechtecken, übereinander geschichtet wie Aktenordner, wie vergessene Dokumente, wie Pläne, die nie umgesetzt wurden. Manche ragten heraus, andere waren eingedrückt. Gelb, Blau, Türkis, Orange, Rosa – jedes Rechteck eine gescheiterte Idee, eine verworfene Möglichkeit.
Ich streckte die Hand aus und berührte eines der gelben Rechtecke. Es war klebrig. Nicht physisch klebrig – emotional klebrig. Meine Finger wollten nicht loslassen. Das Gelb hielt fest, klammerte sich an meine Haut, flehte mich an, es mitzunehmen, ihm zu entkommen zu helfen.
“Die Farben hier sind gefangen”, sagte die Stimme. “Der Architekt hat sie eingesammelt, als er noch glaubte, dass Farbe kontrollierbar sei. Er hat sie in Formen gepresst, in Rechtecke gezwungen, ihnen Ränder gegeben. Aber Farbe will sich ausbreiten. Sie will bluten. Deshalb ist alles hier so chaotisch.”
Ich ging weiter. Der Korridor schien nicht kürzer zu werden. Im Gegenteil – mit jedem Schritt fügte er sich weitere Meter an, verlängerte sich in Echtzeit. Die Perspektive zog mich nach vorne, aber das Ziel entfernte sich genauso schnell, wie ich mich näherte.
Ein blaues Rechteck an der rechten Wand leuchtete auf. Nicht hell – eher wie eine Erinnerung an Licht. Ich erkannte es. Das Türkis aus dem ersten Raum. Es war hierher gefolgt. Oder es war nie weg gewesen. Das Gebäude war nicht getrennt in Räume, verstand ich plötzlich. Es war ein einziger, gefalteter Raum. Jede Farbe existierte überall gleichzeitig, nur in unterschiedlichen Konzentrationen.
“Du lernst”, sagte die Stimme. Sie klang fast zufrieden. “Die meisten brauchen länger, um zu verstehen, dass sie nie den Ort wechseln. Sie wechseln nur den Blickwinkel.”
“Dann bin ich noch im ersten Treppenhaus?”
“Du bist das Treppenhaus. Du bist der Innenhof. Du bist die Kammer der Ansichten. Alles ist überall. Du bewegst dich nicht durch Räume – du bewegst dich durch Zustände.”
Der Boden unter meinen Füßen begann zu vibrieren. Die Streifen – gelb, türkis, hellblau, schwarz – lösten sich von ihrer Parallelität. Sie begannen sich zu drehen, nicht um eine Achse, sondern um mich. Ich war der Fixpunkt. Die Farben kreisten wie Planeten um eine falsche Sonne.
Über mir lösten sich Teile der Decke. Nicht herab, sondern auf. Das Orange brach aus seinen Formen, das Gelb explodierte in Partikel, das Braun zerfiel zu Staub. Aber der Staub fiel nicht. Er schwebte, arrangierte sich neu, bildete andere Muster. Die Decke war nicht zerstört – sie wurde neu imaginiert.
“Das passiert”, sagte die Stimme, “wenn du zu lange stehen bleibst. Das Gebäude beginnt, dich zu integrieren. Es versucht, dich in Farbe zu verwandeln. In ein Rechteck. In einen Teil der Wand.”
Ich begann zu rennen.
Das Gelb rannte mit. Es breitete sich vor mir aus, legte sich wie ein Teppich auf den Boden, versuchte, meinen Weg zu bahnen, erstickte dabei aber alles andere. Das Türkis zog sich zurück. Das Blau wich zur Seite. Nur das Schwarz blieb, schnitt durch alles hindurch, unbeirrt, gleichgültig.
Der Korridor verengte sich. Oder ich wurde breiter. Meine Schultern streiften die Wände, die Rechtecke kratzten an meiner Kleidung, hinterließen Farbspuren. Gelb auf meinem linken Arm. Orange auf dem rechten. Rosa an meinem Nacken. Ich wurde bemalt. Gegen meinen Willen, aber mit meiner Zustimmung – denn ich lief ja weiter, rieb mich ja an ihnen.
Und dann, ganz plötzlich, endete der Korridor.
Nicht mit einer Wand. Nicht mit einer Tür. Er endete einfach, brach ab wie ein Satz, der vergessen hatte, wo er hinwollte. Vor mir: Leere. Keine schwarze Leere, keine weiße – eine gelbe Leere. Ein Nichts, das gleichzeitig alles war, eine Helligkeit, die blendete, ohne Licht zu sein.
“Das ist die Schwelle”, sagte die Stimme. Sie kam jetzt von hinter mir, als hätte sie mich eingeholt. “Hier enden die falschen Versprechen. Hier beginnt das echte Scheitern.”
“Was ist dahinter?”
“Nichts. Oder alles. Oder etwas dazwischen. Der Architekt kam nie so weit. Er blieb im Korridor stecken, lief jahrelang hin und her, suchte einen Ausgang, der nicht der Abgrund war. Aber es gibt keinen anderen.”
Ich blickte zurück. Der Korridor hinter mir war verschwunden. An seiner Stelle: ein einzelnes Rechteck. Gelb. Klein. Es schwebte in der Luft, eine kondensierte Version von allem, was ich gerade durchquert hatte.
“Du kannst zurückgehen”, sagte die Stimme. “In das Rechteck. Dann wiederholst du alles. Den Korridor, die Versprechen, die Hoffnung, dass es diesmal anders wird. Viele wählen das.”
“Oder?”
“Oder du springst.”
Ich starrte in die gelbe Leere. Sie pulsierte, zog mich an, stieß mich ab, tat beides gleichzeitig mit einer Kraft, die mich fast zerriss.
“Was ist auf der anderen Seite?”
“Eine Farbe, die du noch nicht kennst. Eine, die der Architekt erfunden hat, weil keine der existierenden ausreichte.”
Ich sprang.
Das Gelb schluckte mich. Aber es war kein Verschlingen. Es war ein Durchfallen – durch Schichten von Helligkeit, durch Lagen von falscher Hoffnung, durch die klebrige Substanz gebrochener Versprechen.
Und dann, ganz am Ende, bevor ich dort ankam, wo auch immer dort war: eine neue Farbe.
Grün.
Aber kein natürliches Grün. Ein Grün, das aus Gelb und Blau destilliert war, aber dabei etwas hinzugewonnen hatte – eine Qualität, die keine der beiden Ursprungsfarben besaß.
Das Grün des Architekten.
Und es wartete auf mich.
Chapter 4: The Path of False Promises
The yellow roared at me before I saw it.
It smelled of burnt honey, of overheated metal, of summer that had lasted too long. A pungent, penetrating smell that ate into the nasal mucous membranes and lingered there like a warning.
The corridor stretched out before me—narrow, long, impossibly long. The perspective was wrong, as if seen through a distorted lens. It didn’t get narrower the further it went, it got denser. The distance between here and there was not spatial, but substantial. With every meter I saw, the building added more meters, as if to ensure that the end would never be reached.
Above me, the ceiling hung like a patchwork of despair. Yellow, dominant and intrusive. Orange, rusty like old blood. Brown, the color of decay. The blocks were uneven, didn’t fit together, but had stopped caring. They just lay there, stacked on top of each other, too tired to fall into place.
The walls were a battlefield of colors. Yellow fought against turquoise. Blue against orange. Black divided everything, cutting through every surface like a knife that had forgotten to stop. Pink shimmered in the corners, embarrassed, out of place, as if it were here because it had nowhere else to go.
But the floor—the floor was a lie.
It consisted of stripes. Yellow, light blue, turquoise, yellow again, black. They lay parallel, ran straight into the depths, promising direction, progress, a goal. But with every step I took, the stripes shifted imperceptibly to the side. They remained parallel, but not to me. They were parallel to something else, to an axis I couldn’t see.
I walked. Because there was no alternative. The corridor behind me had already closed—not with a wall, but with oblivion. I could no longer remember which opening I had come through. The room had devoured the memory.
The yellow intensified. It came from all sides, burning itself into my retinas. A color like a command. Keep going. Go faster. Run away. But from what? The yellow itself was the danger. Escape was what was chasing.
“You are in the corridor of promises,” said a voice. This time it didn’t come from the walls, but from the floor itself. Deep, vibrating, as if the earth were speaking under its own weight. “This is where the architect stored his hopes. All the hopes he ever had before he understood that hope is a structural problem.“
”What hopes?“
”For an end. For an exit. For a space that would simply be a space, without ambiguity, without folds. He chose yellow because yellow seems optimistic. Do you see how well that worked?”
The yellow wasn’t optimistic. It was hysterical. It screamed for attention, for meaning, for a purpose it would never fulfill. It was the color of things that pretend to help but only get in the way.
The walls on either side were not smooth. They consisted of inserted rectangles, stacked on top of each other like file folders, like forgotten documents, like plans that were never implemented. Some protruded, others were indented. Yellow, blue, turquoise, orange, pink—each rectangle a failed idea, a discarded possibility.
I reached out and touched one of the yellow rectangles. It was sticky. Not physically sticky—emotionally sticky. My fingers didn’t want to let go. The yellow held on, clinging to my skin, begging me to take it with me, to help it escape.
“The colors here are trapped,” said the voice. “The architect collected them when he still believed that color could be controlled. He pressed them into shapes, forced them into rectangles, gave them edges. But color wants to spread. It wants to bleed. That’s why everything here is so chaotic.”
I walked on. The corridor didn’t seem to be getting any shorter. On the contrary, with every step I took, it added more meters, lengthening in real time. The perspective pulled me forward, but the destination moved away just as quickly as I approached it.
A blue rectangle on the right wall lit up. Not brightly—more like a memory of light. I recognized it. The turquoise from the first room. It had followed me here. Or it had never been gone. The building was not divided into rooms, I suddenly understood. It was a single, folded space. Every color existed everywhere at once, only in different concentrations.
“You’re learning,” said the voice. It sounded almost satisfied. “Most people take longer to understand that they never change location. They only change their perspective.”
“So I’m still in the first stairwell?”
“You are the stairwell. You are the courtyard. You are the chamber of views. Everything is everywhere. You don’t move through spaces—you move through states.”
The floor beneath my feet began to vibrate. The stripes—yellow, turquoise, light blue, black—broke away from their parallelism. They began to rotate, not around an axis, but around me. I was the fixed point. The colors circled like planets around a false sun.
Above me, parts of the ceiling detached. Not down, but up. The orange broke out of its shapes, the yellow exploded into particles, the brown crumbled into dust. But the dust did not fall. It floated, rearranged itself, formed other patterns. The ceiling was not destroyed – it was reimagined.
“That’s what happens,” said the voice, “when you stand still for too long. The building begins to integrate you. It tries to turn you into color. Into a rectangle. Into part of the wall.”
I started to run.
The yellow ran with me. It spread out in front of me, laid itself on the floor like a carpet, tried to pave my way, but suffocated everything else in the process. The turquoise retreated. The blue moved aside. Only the black remained, cutting through everything, unwavering, indifferent.
The corridor narrowed. Or I became wider. My shoulders brushed against the walls, the rectangles scratched my clothes, leaving traces of color. Yellow on my left arm. Orange on my right. Pink on my neck. I was being painted. Against my will, but with my consent—because I kept running, rubbing against them.
And then, all of a sudden, the corridor ended.
Not with a wall. Not with a door. It just ended, breaking off like a sentence that had forgotten where it was going. In front of me: emptiness. Not black emptiness, not white emptiness – yellow emptiness. A nothingness that was everything at once, a brightness that dazzled without being light.
“This is the threshold,” said the voice. It now came from behind me, as if it had caught up with me. “This is where false promises end. This is where real failure begins.”
“What’s behind it?”
“Nothing. Or everything. Or something in between. The architect never got that far. He got stuck in the corridor, running back and forth for years, looking for an exit that wasn’t the abyss. But there is no other.”
I looked back. The corridor behind me had disappeared. In its place: a single rectangle. Yellow. Small. It floated in the air, a condensed version of everything I had just passed through.
“You can go back,” said the voice. “Into the rectangle. Then you repeat everything. The corridor, the promises, the hope that this time it will be different.
Many choose that.“
”Or?“
”Or you jump.”
I stared into the yellow void. It pulsed, drew me in, repelled me, did both at once with a force that almost tore me apart.
“What’s on the other side?”
“A color you don’t know yet. One that the architect invented because none of the existing ones were enough.”
I jumped.
The yellow swallowed me. But it wasn’t devouring. It was a falling through—through layers of brightness, through layers of false hope, through the sticky substance of broken promises.
And then, at the very end, before I arrived wherever there was: a new color.
Green.
But not a natural green. A green that was distilled from yellow and blue, but had gained something in the process—a quality that neither of the original colors possessed.
The architect’s green.
And it was waiting for me.


Leave a Reply