Kapitel 5: Der Baum der aufgespaltenen Wirklichkeit

Das Grün war keine Erlösung. Es war eine Detonation.

Als ich aus der gelben Leere fiel, landete ich nicht – ich zerbrach. Nein, der Raum zerbrach um mich herum, in mich hinein, durch mich hindurch. Als hätte meine Ankunft eine strukturelle Instabilität ausgelöst, die nur darauf gewartet hatte, sich zu manifestieren.

Magenta explodierte aus allen Richtungen. Nicht das melancholische Magenta des Innenhofs, nicht das aggressive aus der Kammer der Ansichten – dies war ein triumphierendes Magenta. Ein Magenta, das gewonnen hatte, ohne dass es je einen Wettkampf gegeben hatte. Es überzog alles, färbte die Luft selbst, drang in meine Lungen ein. Jeder Atemzug schmeckte nach überreifer Frucht, nach fermentierter Süße.

Aber das Grün – das erfundene Grün des Architekten – war auch da. In Dreiecken. Scharfen, präzisen Dreiecken, die durch das Magenta schnitten wie Klingen. Sie waren nicht gemalt. Sie waren gewachsen. Aus der Mitte des Raumes erhob sich etwas, das man hätte Säule nennen können, wenn Säulen sich verzweigen würden. Ein Stamm. Braun-orange, verrostet, wie aus oxidiertem Eisen gegossen. Und aus ihm sproßen die grünen Dreiecke wie Äste, wie Blätter, wie geometrische Gedanken.

Ein Baum. Der Architekt hatte einen Baum gebaut. Aus Perspektive. Aus unmöglichen Winkeln. Aus Farbe, die sich weigerte, flach zu bleiben.

“Das ist sein letztes Werk”, sagte die Stimme – aber diesmal kam sie von überall und nirgends, war bereits Teil des Raums geworden, untrennbar von seiner Substanz. “Der Baum der aufgespaltenen Wirklichkeit. Er wollte beweisen, dass Wachstum auch rückwärts funktioniert. Dass ein Baum in sich selbst hineinwachsen kann statt nach außen.”

Ich hob den Blick. Der Baum erstreckte sich nach oben – und nach unten. Seine Äste verzweigten sich in beide Richtungen, wuchsen aus der Decke genau so wie aus dem Boden, trafen sich in der Mitte, durchdrangen einander, bildeten Knoten aus reiner Unmöglichkeit. Die grünen Dreiecke leuchteten von innen, pulsierten in einem Rhythmus, der nicht biologisch war. Eher mechanisch. Oder mathematisch.

Der Raum selbst war keine kohärente Struktur mehr. Er hatte aufgegeben, ein Raum zu sein, und war zu einem Zustand geworden. Die Wände – wenn es noch Wände waren – hatten sich in Fragmente aufgelöst. Magenta, Rosa, Pink, Rot, Violett – alle Schattierungen zwischen Wut und Zärtlichkeit – lagen übereinander, durcheinander, ineinander verschachtelt wie falsch sortierte Erinnerungen. Manche Flächen waren horizontal, andere vertikal, einige diagonal, viele in Winkeln, für die es keine Namen gab.

Überall blaue Quadrate. Sie schwebten in der Luft, an den Wänden, im Boden eingelassen. Fenster. Aber nicht zu anderen Räumen – zu anderen Versionen dieses Raums. Durch eines sah ich denselben Baum, aber seine Äste waren schwarz. Durch ein anderes: der Baum war transparent, aus purem Licht. Durch ein drittes: der Baum existierte nicht, aber seine Abwesenheit hatte die Form eines Baumes.

Ich versuchte zu gehen, aber Richtung war bedeutungslos geworden. Der Boden bestand aus schrägen Flächen – magenta, pink, grün, türkis – alle in verschiedenen Neigungen. Manche fielen nach innen, andere nach außen. Einige waren konkav, andere konvex. Mit jedem Schritt musste ich neu kalkulieren, was unten bedeutete.

“Der Baum ist das Zentrum”, sagte die Stimme. “Alles, was du bisher gesehen hast – die Treppen, der Innenhof, die Kammer, der Korridor – sind nur Äste. Verzweigungen. Du hast dich nach innen bewegt, nicht nach oben oder unten. Du bist immer tiefer in den Baum eingedrungen.”

Ich berührte den Stamm. Die Oberfläche war rau, warm, vibrierte unter meinen Fingern. Und plötzlich verstand ich: Der Stamm war hohl. Innen war Raum. Unendlich viel Raum, gefaltet, komprimiert, auf eine Fläche projiziert, die unmöglich so viel enthalten konnte.

“Was ist im Inneren?”

“Alle Räume gleichzeitig. Der Architekt hat sie dort gelagert, als sie zu viele wurden. Er konnte nicht aufhören zu bauen, also baute er nach innen. Jeder Ring im Stamm ist ein Stockwerk. Jede Faser ein Korridor. Das ganze Gebäude ist in diesem Baum enthalten. Und dieser Baum ist im Gebäude enthalten. Es gibt keinen Unterschied mehr.”

Die grünen Dreiecke über mir begannen sich zu drehen. Langsam zuerst, dann schneller, bis sie verschwammen zu einem Kreis, zu einer rotierenden Scheibe aus Farbe und Geometrie. Und aus der Rotation entstand ein Geräusch – hoch, singend, wie von einer Maschine, die vergessen hatte, dass sie keine Seele haben sollte.

Das Magenta um mich herum reagierte. Es begann zu pulsieren im Rhythmus des grünen Singens. Wände bewegten sich näher, zogen sich zurück, atmeten mit. Die blauen Quadrate leuchteten auf, eines nach dem anderen, wie Lichter auf einer Landebahn, die nirgendwo hinführte.

“Du musst hinein”, sagte die Stimme. “In den Stamm. Dort ist das Herz. Das Zentrum des Labyrinths. Der Ort, an dem der Architekt aufgehört hat, Mensch zu sein, und begonnen hat, Struktur zu werden.”

“Was ist dort?”

“Die Antwort auf die Frage, die du nie gestellt hast.”

Eine der grünen Dreiecke löste sich vom Baum, schwebte auf mich zu. Es war nicht mehr nur grün – es schimmerte, wechselte die Farbe mit jedem Winkel. Grün zu Türkis. Türkis zu Gelb. Gelb zu einem Weiß, das so hell war, dass es wehtat.

Das Dreieck berührte meine Stirn. Kalt. Scharf. Präzise. Und ich sah:

Alle Räume gleichzeitig. Das türkisfarbene Treppenhaus, das sich endlos nach oben wand. Der magentafarbene Innenhof mit seinen singenden Fliesen. Die violette Kammer der zersplitterten Ansichten. Der gelbe Korridor der falschen Versprechen. Und dieser Raum hier, der Baum, die Fragmentierung, das Magenta-Grüne Chaos.

Aber sie waren nicht nebeneinander. Sie waren übereinander. Schichten derselben Wirklichkeit, alle gleichzeitig existierend, nur durch dünne Membranen aus Farbe getrennt.

“Das Gebäude”, flüsterte die Stimme, “ist nicht groß. Es ist dicht. Ein einziger Raum, der sich selbst millionenfach überlagert hat. Du bist nie weitergegangen. Du bist immer tiefer eingedrungen in die Faltungen.”

Das Dreieck löste sich von meiner Stirn. Ich taumelte rückwärts. Der Stamm des Baumes hatte sich geöffnet – nicht mit einer Tür, sondern mit einem Riss, einem Spalt, einer Wunde in seiner Struktur. Dahinter: Dunkelheit. Aber keine schwarze Dunkelheit. Eine farblose Dunkelheit. Die Abwesenheit von allem, was ich bisher gesehen hatte.

Und aus dieser Dunkelheit kam etwas. Nicht gehend. Nicht kriechend. Sickend. Eine Form ohne Kontur. Eine Präsenz ohne Körper. Sie war aus allen Farben gemacht, die sich gegenseitig auslöschten. Türkis und Magenta, die sich zu Grau addierten. Gelb und Violett, die zu Weiß verschmolzen. Grün und Rot, die zu einem schmutzigen Braun gerannen.

“Das”, sagte die Stimme, und zum ersten Mal klang sie erschrocken, “sollte nicht hier sein. Das ist das, was der Architekt verworfen hat. Die Farbe, die nicht funktionierte. Er hat sie im Kern begraben, im Innersten des Baumes, und gehofft, sie würde dort verrotten.”

Die Form kam näher. Sie hatte keine Augen, aber sie sah mich. Sie hatte keinen Mund, aber sie sprach:

“Ich bin die Summe aller Fehler. Jede falsche Linie. Jeder verworfene Plan. Jede Farbe, die nicht passte. Der Architekt dachte, er könnte mich begraben. Aber man kann keine Fehler begraben. Man kann sie nur akkumulieren.”

Das Magenta um mich herum begann zu verblassen. Die grünen Dreiecke fielen vom Baum wie kranke Blätter. Die blauen Quadrate schlossen sich einer nach dem anderen. Der Raum kollabierte nicht – er dekonzentrierte sich, verlor seine Intensität, seine Farbsättigung.

“Lauf”, sagte die Stimme. “Oder bleib und werde Teil der Korrektur. Der Baum versucht, seine Fehler zu integrieren. Alles, was hier ist, wird neu berechnet. Neu gefärbt. Neu erdacht.”

Ich rannte. Aber rennen im fragmentierten Raum war unmöglich. Ich stolperte über Flächen, die ihre Neigung wechselten. Ich prallte gegen Wände, die zwischen solid und durchlässig oszillierten. Das Magenta klammerte sich an meine Kleidung, versuchte mich festzuhalten, mich zu einem Teil seiner selbst zu machen.

Hinter mir wuchs die farblose Form. Sie breitete sich aus, fraß das Magenta, neutralisierte das Grün, löschte das Türkis. Überall, wo sie berührte, blieb Grau zurück. Erschöpfte Geometrie. Die Farbe, die der Architekt am Anfang gefürchtet hatte.

Vor mir öffnete sich ein Spalt. Nicht im Raum – zwischen Räumen. Eine Lücke in der Überlagerung. Durch sie sah ich etwas Neues. Etwas, das ich noch nicht betreten hatte.

Ein Raum aus purem Weiß.

Ich sprang.

Und das Magenta schrie mir nach, ein letzter Protest, bevor die Stille kam.

Chapter 5: The Tree of Split Reality

The green was not salvation. It was a detonation.

When I fell out of the yellow void, I didn’t land—I shattered. No, the space shattered around me, into me, through me. As if my arrival had triggered a structural instability that had been just waiting to manifest itself.

Magenta exploded from all directions. Not the melancholic magenta of the courtyard, not the aggressive magenta of the chamber of views – this was a triumphant magenta. A magenta that had won without ever having competed. It covered everything, colored the air itself, penetrated my lungs. Every breath tasted of overripe fruit, of fermented sweetness.

But the green—the architect’s invented green—was there too. In triangles. Sharp, precise triangles that cut through the magenta like blades. They weren’t painted. They had grown. Something rose from the center of the room that could have been called a column, if columns branched out. A trunk. Brown-orange, rusted, as if cast from oxidized iron. And from it sprouted the green triangles like branches, like leaves, like geometric thoughts.

A tree. The architect had built a tree. From perspective. From impossible angles. From paint that refused to remain flat.

“This is his last work,” said the voice—but this time it came from everywhere and nowhere, had already become part of the space, inseparable from its substance. “The tree of split reality. He wanted to prove that growth also works backwards. That a tree can grow into itself instead of outward.”

I looked up. The tree stretched upward—and downward. Its branches branched out in both directions, growing from the ceiling as well as from the floor, meeting in the middle, intertwining, forming knots of pure impossibility. The green triangles glowed from within, pulsing in a rhythm that was not biological. More mechanical. Or mathematical.

The room itself was no longer a coherent structure. It had given up being a room and had become a state. The walls—if they were still walls—had dissolved into fragments. Magenta, pink, red, violet—all shades between anger and tenderness—lay on top of each other, jumbled together, intertwined like misplaced memories. Some surfaces were horizontal, others vertical, some diagonal, many at angles for which there were no names.

Blue squares everywhere. They floated in the air, on the walls, embedded in the floor. Windows. But not to other rooms—to other versions of this room. Through one, I saw the same tree, but its branches were black. Through another, the tree was transparent, made of pure light. Through a third: the tree did not exist, but its absence had the shape of a tree.

I tried to walk, but direction had become meaningless. The floor consisted of sloping surfaces—magenta, pink, green, turquoise—all at different angles. Some sloped inward, others outward. Some were concave, others convex. With every step, I had to recalculate what down meant.

“The tree is the center,” said the voice. “Everything you’ve seen so far—the stairs, the courtyard, the chamber, the corridor—are just branches. Offshoots. You’ve been moving inward, not up or down. You’ve been penetrating deeper and deeper into the tree.”

I touched the trunk. The surface was rough, warm, vibrating under my fingers. And suddenly I understood: the trunk was hollow. Inside was space. Infinite space, folded, compressed, projected onto a surface that couldn’t possibly contain so much.

“What’s inside?”

“All the rooms at once. The architect stored them there when there were too many. He couldn’t stop building, so he built inward. Every ring in the trunk is a floor. Every fiber is a corridor. The entire building is contained within this tree. And this tree is contained within the building. There is no longer any difference.”

The green triangles above me began to rotate. Slowly at first, then faster, until they blurred into a circle, a rotating disc of color and geometry. And from the rotation came a sound—high-pitched, singing, like a machine that had forgotten it was not supposed to have a soul.

The magenta around me reacted. It began to pulsate in time with the green singing. Walls moved closer, receded, breathed along with it. The blue squares lit up, one after the other, like lights on a runway leading nowhere.

“You must go inside,” said the voice. “Into the trunk. That is where the heart is. The center of the labyrinth. The place where the architect ceased to be human and began to become structure.”

“What is there?”

“The answer to the question you never asked.”

One of the green triangles detached itself from the tree and floated toward me. It was no longer just green—it shimmered, changing color with every angle. Green to turquoise. Turquoise to yellow. Yellow to a white so bright it hurt.

The triangle touched my forehead. Cold. Sharp. Precise. And I saw:

All the rooms at once. The turquoise staircase winding endlessly upward. The magenta courtyard with its singing tiles. The violet chamber of fragmented views. The yellow corridor of false promises. And this room here, the tree, the fragmentation, the magenta-green chaos.

But they weren’t next to each other. They were on top of each other. Layers of the same reality, all existing simultaneously, separated only by thin membranes of color.

“The building,” whispered the voice, “is not large. It is dense. A single room that has superimposed itself millions of times. You never went any further. You penetrated deeper and deeper into the folds.”

The triangle detached itself from my forehead. I staggered backwards. The trunk of the tree had opened – not with a door, but with a crack, a gap, a wound in its structure. Behind it: darkness. But not black darkness. A colorless darkness. The absence of everything I had seen so far.

And from this darkness something came. Not walking. Not crawling. Sickening. A form without contours. A presence without a body. It was made of all colors that canceled each other out. Turquoise and magenta that added up to gray. Yellow and violet that merged into white. Green and red that congealed into a dirty brown.

“That,” said the voice, and for the first time it sounded frightened, “shouldn’t be here. That’s what the architect discarded. The color that didn’t work. He buried it in the core, in the heart of the tree, and hoped it would rot there.”

The shape came closer. It had no eyes, but it saw me. It had no mouth, but it spoke:

“I am the sum of all mistakes. Every wrong line. Every discarded plan. Every color that didn’t fit. The architect thought he could bury me. But you can’t bury mistakes. You can only accumulate them.”

The magenta around me began to fade. The green triangles fell from the tree like diseased leaves. The blue squares closed one by one. The space did not collapse—it deconcentrated, losing its intensity, its color saturation.

“Run,” said the voice. “Or stay and become part of the correction. The tree is trying to integrate its mistakes. Everything here is being recalculated. Recolored. Reimagined.”

I ran. But running in the fragmented space was impossible. I stumbled over surfaces that changed their inclination. I collided with walls that oscillated between solid and permeable. The magenta clung to my clothes, trying to hold me back, to make me part of itself.

Behind me, the colorless form grew. It spread, devouring the magenta, neutralizing the green, erasing the turquoise. Everywhere it touched, gray remained. Exhausted geometry. The color the architect had feared at the beginning.

A gap opened up in front of me. Not in the room—between rooms. A gap in the overlap. Through it, I saw something new. Something I had not yet entered.

A room of pure white.

I jumped.

And the magenta cried out after me, a final protest before the silence came.


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