Kapitel 9: Das Haus aus warmen Widersprüchen

Was vor der Farbe existierte, war nicht Schwarz. Es war Orange.

Nicht das aggressive Orange aus rostigen Säulen. Nicht das Orange als Übergang zwischen Gelb und Rot. Sondern ein primäres Orange. Ein Orange, das existierte, bevor das Spektrum erfunden wurde. Das Orange der ersten Dämmerung, als Licht noch nicht wusste, dass es sich spalten würde.

Ich trat hindurch und rekonstruierte.

Zuerst die Ränder. Dann die Form. Schließlich die Substanz. Ich wurde wieder körperlich, aber anders als zuvor. Leichter. Durchlässiger. Als hätte die Wand mich gefiltert, alles Schwere zurückgelassen, nur die Essenz durchgelassen.

Der Raum um mich herum war eine Feier der Wärme.

Orange flutete alles. Nicht gleichmäßig – in Wellen, in Schüben, in diagonalen Strömen, die über Flächen liefen wie Licht über bewegtes Wasser. Das Orange vermischte sich mit Rosa, erzeugte Pfirsich. Es berührte Gelb und wurde zu Gold. Es traf auf das unvermeidliche Magenta – denn Magenta war immer da, wartete in den Ecken – und explodierte zu einem leuchtenden, vibrierenden Pink.

Aber was mich verblüffte, war die Struktur.

Sie war da. Und gleichzeitig nicht.

Wände erhoben sich – schiefe, geneigte Flächen, manche orange, manche gelb, einige in jenem müden Violett, das aussah wie Abend, der sich weigert, Nacht zu werden. Aber diese Wände waren nicht kohärent. Sie durchdrangen einander. Überlappten sich. Eine orange Wand schob sich durch eine gelbe, und beide existierten vollständig, beide nahmen denselben Raum ein, ohne sich zu verdrängen.

In der Mitte des Raumes – falls es eine Mitte gab in einem Raum, dessen Geometrie sich weigerte, Zentren anzuerkennen – stand ein Rechteck. Rot. Intensiv rot. Es war nicht flach. Es ragte hervor, drei-dimensional, aber seine Dimensionen wechselten je nachdem, aus welchem Winkel ich es betrachtete. Von links: eine Tür. Von rechts: eine Wand. Von vorne: ein Durchgang, der gleichzeitig verschlossen war.

“Das ist das Haus”, sagte eine Stimme. Aber diese Stimme war anders. Weicher. Fast zärtlich. “Der Architekt hat es gebaut, als er sich daran erinnerte, dass er einmal ein Zuhause hatte. Bevor er zur Struktur wurde. Bevor er vergaß, dass Menschen in Wärme leben können.”

Ich drehte mich um. Niemand war da. Aber die Stimme fühlte sich näher an als alle vorherigen. Als käme sie nicht aus dem Raum, sondern aus mir selbst.

“Wo bin ich?”

“Im letzten bewohnbaren Raum. Danach gibt es nur noch Konzepte. Abstraktion. Theorie. Aber hier – hier ist noch Wärme. Noch die Erinnerung daran, was ein Raum sein könnte, wenn er nicht nur unmöglich sein wollte.”

Ich ging auf das rote Rechteck zu. Der Boden unter mir war ein Mosaik aus orangefarbenen und gelben Flächen, alle in verschiedenen Winkeln geneigt. Manche Flächen waren horizontal, andere schräg, einige fast vertikal. Mit jedem Schritt musste ich neu kalkulieren, wo unten war. Aber es war nicht bedrohlich. Es war eher wie Tanzen – ein Aushandeln zwischen meiner Absicht und den Vorschlägen des Raums.

Die Wände um mich herum atmeten. Nicht wie die Gebäude im Hof der Rückkehr. Sanfter. Wie das Atmen eines schlafenden Kindes. Die orangefarbenen Flächen dehnten sich aus, zogen sich zusammen, schufen einen Rhythmus, der beruhigend war statt beunruhigend.

Über mir – endlich war oben wieder eine verlässliche, wenn auch geneigte Richtung – wölbte sich eine Decke. Rosa und Violett gestreift, diagonal verlaufend, als wäre der Himmel selbst in den Raum gefallen und hätte beschlossen zu bleiben. Durch Risse in der Decke sickerte ein blasses Gelb. Nicht aggressiv. Nicht hysterisch. Ein Gelb wie früher Morgen, wie Hoffnung, die noch nicht enttäuscht wurde.

“Das rote Rechteck”, sagte die Stimme, “ist die letzte Tür. Aber nicht zu einem anderen Raum. Zu einer Entscheidung.”

“Was für eine Entscheidung?”

“Ob du akzeptierst, was du geworden bist.”

Ich berührte das Rot. Es war warm. Fiebrig fast. Aber nicht krank. Eher wie Leben, das sich seiner selbst zu bewusst war. Unter meiner Handfläche vibrierte etwas – nicht Energie, sondern Bedeutung. Als wäre das Rechteck ein komprimierter Text, eine in Form gepresste Botschaft.

“Der Architekt”, fuhr die Stimme fort, “kam hierher, nachdem er durch die Wand gegangen war. Er stand hier, genau wo du stehst, und verstand: Er konnte nicht zurück. Nicht zu dem, was er gewesen war. Die Räume hatten ihn verändert. Jede Farbe hatte eine Schicht abgetragen, eine andere hinzugefügt. Er war nicht mehr menschlich. Aber er war auch noch nicht Struktur.”

“Was war er?”

“Übergang. Genau wie du jetzt.”

Die orangefarbenen Wände begannen sich zu verschieben. Nicht dramatisch – langsam, bedächtig, wie Kontinentalplatten. Sie schufen neue Konfigurationen, neue Durchgänge, neue Überlappungen. Das Gelb folgte ihnen, floss in die neu entstehenden Lücken. Das Rosa leuchtete heller, als würde es ermutigt.

Ich ging um das rote Rechteck herum. Von jeder Seite sah es anders aus. Von hinten: ein Spiegel, aber er reflektierte nicht mich, sondern alle Räume, die ich durchquert hatte. Das Türkis, das Magenta, das Violett, das Gelb, das Grün – alle schimmerten in seiner Oberfläche, überlagert, verdichtet zu einer visuellen Geschichte.

“Gehst du hindurch”, sagte die Stimme, “akzeptierst du, dass du nicht mehr der bist, der begonnen hat. Du wirst zum Teil des Gebäudes. Nicht gefangen – integriert. Du wirst eine neue Farbe, ein neuer Raum, eine neue Möglichkeit.”

“Und wenn ich nicht hindurchgehe?”

Die Stimme schwieg einen Moment. Das Orange um mich herum pulsierte, als würde es nachdenken.

“Dann bleibst du hier. Im Haus der Wärme. Das ist keine Strafe. Viele haben diese Wahl getroffen. Sie bewohnen die Wände, fließen durch die Flächen, existieren in den Übergängen zwischen Orange und Rosa. Es ist nicht unangenehm. Es ist sogar… tröstlich.”

Ich blickte zurück. Hinter mir hatte sich eine weitere Wand erhoben – oder war schon immer dagewesen, und ich hatte sie nur jetzt bemerkt. Sie war orangefarben, durchsetzt mit violetten Schatten. Warm. Einladend. Ein Ort zum Bleiben.

Das rote Rechteck vor mir pulsierte stärker. Es wollte eine Antwort. Oder es war die Antwort, und ich musste nur entscheiden, ob ich sie hören wollte.

Ich dachte an die Treppen. An den Innenhof. An die Kammer der Ansichten. An den gelben Korridor. An den Baum. An die Spirale. An den Turm. An die auflösende Wand. Acht Räume. Acht Zustände. Acht Versionen meiner selbst, die ich zurückgelassen hatte wie abgestreifte Häute.

Und verstand: Der umgekehrte Aufstieg war nie eine Bewegung durch den Raum gewesen. Er war eine Bewegung durch mich selbst. Jeder Raum hatte eine Schicht abgetragen, hatte gezeigt, was darunter lag. Und was darunter lag, war nicht Kern. Es waren weitere Schichten. Unendlich viele.

“Der Architekt”, sagte ich, “ist nie hindurchgegangen, oder?”

“Doch”, antwortete die Stimme. “Aber er ging nur zur Hälfte. Ein Teil von ihm blieb hier, im Orange, in der Wärme. Der andere Teil ging weiter. Deshalb ist er überall und nirgends. Geteilt zwischen Bleiben und Gehen.”

Ich legte beide Hände auf das rote Rechteck.

Es öffnete sich.

Nicht nach außen. Nach innen. Die Oberfläche teilte sich wie Wasser, enthüllte eine Leere dahinter, die nicht schwarz war. Eine Leere aus purem, konzentriertem Noch-Nicht.

Ich atmete ein. Das Orange füllte meine Lungen, wärmte mich von innen. Eine letzte Umarmung.

Dann trat ich hindurch.

Das Haus aus warmen Widersprüchen schloss sich hinter mir. Aber es ließ mir etwas da – einen Farbton, ein Echo, eine Erinnerung an Wärme.

Die ich mitnehmen würde.

In das, was kam.

Chapter 9: The House of Warm Contradictions

What existed before color was not black. It was orange.

Not the aggressive orange of rusty pillars. Not the orange that transitions between yellow and red. But a primary orange. An orange that existed before the spectrum was invented. The orange of the first dawn, when light did not yet know it would split.

I stepped through and reconstructed.

First the edges. Then the shape. Finally, the substance. I became physical again, but different than before. Lighter. More permeable. As if the wall had filtered me, leaving behind everything heavy, letting only the essence through.

The space around me was a celebration of warmth.

Orange flooded everything. Not evenly—in waves, in bursts, in diagonal streams that ran across surfaces like light over moving water. The orange mixed with pink, creating peach. It touched yellow and became gold. It met the inevitable magenta—because magenta was always there, waiting in the corners—and exploded into a bright, vibrant pink.

But what amazed me was the structure.

It was there. And at the same time it wasn’t.

Walls rose – slanted, inclined surfaces, some orange, some yellow, some in that tired violet that looked like evening refusing to turn into night. But these walls were not coherent. They penetrated each other. They overlapped. An orange wall pushed through a yellow one, and both existed completely, both occupying the same space without displacing each other.

In the middle of the room—if there was a middle in a room whose geometry refused to acknowledge centers—stood a rectangle. Red. Intense red. It was not flat. It protruded, three-dimensional, but its dimensions changed depending on the angle from which I viewed it. From the left: a door. From the right: a wall. From the front: a passageway that was simultaneously closed.

“This is the house,” said a voice. But this voice was different. Softer. Almost tender. “The architect built it when he remembered that he once had a home. Before he became a structure. Before he forgot that people can live in warmth.”

I turned around. No one was there. But the voice felt closer than any of the previous ones. As if it wasn’t coming from the room, but from within me.

“Where am I?”

“In the last habitable room. After that, there are only concepts. Abstraction. Theory. But here—here there is still warmth. Still the memory of what a room could be if it didn’t just want to be impossible.”

I walked toward the red rectangle. The floor beneath me was a mosaic of orange and yellow surfaces, all tilted at different angles. Some surfaces were horizontal, others slanted, some almost vertical. With every step, I had to recalculate where down was. But it wasn’t threatening. It was more like dancing—a negotiation between my intention and the suggestions of the room.

The walls around me breathed. Not like the buildings in the courtyard of return. More gently. Like the breathing of a sleeping child. The orange surfaces expanded, contracted, creating a rhythm that was calming rather than unsettling.

Above me—finally, up was a reliable, albeit slanted, direction again—a ceiling arched. Pink and purple stripes ran diagonally across it, as if the sky itself had fallen into the room and decided to stay. A pale yellow seeped through cracks in the ceiling. Not aggressive. Not hysterical. A yellow like early morning, like hope that has not yet been disappointed.

“The red rectangle,” said the voice, “is the last door. But not to another room. To a decision.“

”What kind of decision?“

”Whether you accept what you have become.”

I touched the red. It was warm. Almost feverish. But not sick. More like life that was too aware of itself. Something vibrated under my palm—not energy, but meaning. As if the rectangle were a compressed text, a message pressed into shape.

“The architect,” the voice continued, “came here after he walked through the wall. He stood here, exactly where you are standing, and understood: he couldn’t go back. Not to what he had been. The rooms had changed him. Each color had worn away a layer, added another. He was no longer human. But he wasn’t structure yet either.”

“What was he?”

“Transition. Just like you are now.”

The orange walls began to shift. Not dramatically—slowly, deliberately, like continental plates. They created new configurations, new passages, new overlaps. The yellow followed them, flowing into the newly created gaps. The pink glowed brighter, as if encouraged.

I walked around the red rectangle. It looked different from every side. From behind: a mirror, but it didn’t reflect me, but all the rooms I had passed through. The turquoise, the magenta, the violet, the yellow, the green – all shimmered on its surface, superimposed, condensed into a visual story.

“If you walk through,” said the voice, “you accept that you are no longer the one who started out. You become part of the building. Not trapped—integrated. You become a new color, a new space, a new possibility.”

“And if I don’t walk through?”

The voice was silent for a moment. The orange around me pulsed as if it were thinking.

“Then you stay here. In the house of warmth. This is not a punishment. Many have made this choice. They inhabit the walls, flow through the surfaces, exist in the transitions between orange and pink. It is not unpleasant. It is even… comforting.”

I looked back. Behind me, another wall had risen—or had always been there, and I had only just noticed it. It was orange, interspersed with purple shadows. Warm. Inviting. A place to stay.

The red rectangle in front of me pulsed more strongly. It wanted an answer. Or it was the answer, and I just had to decide if I wanted to hear it.

I thought of the stairs. Of the courtyard. Of the chamber of views. Of the yellow corridor. Of the tree. Of the spiral. Of the tower. Of the dissolving wall. Eight rooms. Eight states. Eight versions of myself that I had left behind like shed skins.

And I understood: the reverse ascent had never been a movement through space. It had been a movement through myself. Each room had removed a layer, had revealed what lay beneath. And what lay beneath was not the core. It was more layers. An infinite number of them.

“The architect,” I said, “never went through, did he?”

“Yes,” replied the voice. “But he only went halfway. Part of him stayed here, in the orange, in the warmth. The other part went on. That’s why he is everywhere and nowhere. Divided between staying and going.”

I placed both hands on the red rectangle.

It opened.

Not outward. Inward. The surface parted like water, revealing a void behind it that was not black. A void of pure, concentrated not-yet.

I breathed in. The orange filled my lungs, warming me from within. One last embrace.

Then I stepped through.

The house of warm contradictions closed behind me. But it left me something—a hue, an echo, a memory of warmth.

Which I would take with me.

Into what was to come.


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