Das Weiße spuckte mich aus wie einen Fremdkörper.
Ich landete nicht. Ich materialisierte – in einem Raum, der bereits zerbrochen war, bevor er jemals ganz gewesen war.
Violett. Aber kein sanftes Violett, kein Abendlicht, kein Lavendel. Ein aggressives, durchdringendes Violett, das aussah wie geronnene Aggression. Die Wände – falls man die gezackten Flächen um mich herum noch Wände nennen konnte – waren in sich selbst gefaltet, überlagert, ineinander geschoben wie misslungene Kartenspiele. Manche Segmente ragten nach vorne, andere zogen sich zurück, einige existierten in beiden Zuständen gleichzeitig.
Schwarze Linien durchschnitten alles. Nicht gemalt. Gewachsen. Als wären es die Sollbruchstellen der Realität selbst, die Orte, an denen das Gebäude beschlossen hatte, mit sich selbst zu brechen.
Ich versuchte, einen Schritt zu tun, aber die Richtung war unklar. Der Boden bestand aus denselben zersplitterten Flächen wie die Wände – violett, pink, schwarz, grau – alle in Winkeln zueinander, die keinen Sinn ergaben. Manche Flächen waren horizontal, andere vertikal, einige schwebten in einem Winkel dazwischen, der weder das eine noch das andere war.
“Du bist in der Kammer der Ansichten”, sagte eine neue Stimme. Tiefer als die aus dem Innenhof. Müder. “Hier hat der Architekt versucht, alle Perspektiven gleichzeitig zu sehen. Er glaubte, wenn er nur den richtigen Winkel fände, würde das Gebäude Sinn ergeben.”
“Hat es funktioniert?”
“Sieh dich um.”
Ich tat es. Und verstand: Der Raum war nicht zerbrochen. Er war vervielfacht. Jede Fläche war dieselbe Fläche, nur aus einem anderen Blickwinkel gesehen. Was von hier aussah wie eine Wand, war von dort ein Boden. Was von links ein Durchgang war, wurde von rechts zu einem geschlossenen Block. Der Raum existierte nicht in einer Version, sondern in tausend gleichzeitigen.
An manchen Stellen leuchtete Orange durch – kleine Fenster, Risse im Violett, als hätte eine andere Zeit sich hierher verirrt. Durch einen der Risse sah ich ein Treppenhaus. Türkis. Das erste Kapitel, immer noch existierend, parallel zu diesem hier.
Ich bewegte mich. Aber Bewegung war hier keine lineare Sache. Mit jedem Schritt wechselte ich die Perspektive. Was eben noch vor mir lag, war plötzlich neben mir. Der Boden kippte, ohne sich zu bewegen. Meine eigene Position im Raum war instabil – nicht weil ich fiel, sondern weil der Raum selbst nicht entscheiden konnte, wo ich sein sollte.
Die schwarzen Linien verdickten sich, je näher ich ihnen kam. Sie waren keine Schatten. Sie waren Abwesenheiten – Orte, an denen das Gebäude aufgehört hatte zu versuchen, sinnvoll zu sein. Wo diese Linien sich kreuzten, entstanden Löcher. Nicht Löcher in etwas, sondern Löcher von etwas – die Negation von Raum selbst.
“Der Architekt”, fuhr die Stimme fort, “hat hier sieben Jahre verbracht. Oder sieben Minuten. Die Zeit war genauso gespalten wie der Raum. Er zeichnete Pläne auf violettem Papier mit schwarzer Tinte. Jede Linie, die er zog, spaltete sich beim Trocknen. Eine Linie wurde zu zwei. Zwei zu vier. Am Ende hatte er Millionen von Linien, aber keine führte irgendwohin.”
Ich streckte die Hand aus und berührte eine der violetten Flächen. Sie fühlte sich an wie Samt. Nein, wie Eis. Nein, wie beides gleichzeitig. Meine Finger sanken ein, aber blieben auch an der Oberfläche. Ich war sowohl drinnen als auch draußen.
Ein Stück weiter vorne – oder hinten, oder oben, die Richtungen hatten ihre Bedeutung verloren – ragte eine Form hervor. Geometrisch komplex. Mehrere Ebenen, die sich durchdrangen, die unmöglich nebeneinander existieren konnten und es trotzdem taten. Sie leuchtete in intensivem Magenta, umrandet von Schwarz, durchsetzt mit blassen Grautönen.
“Das ist die Kreuzung”, sagte die Stimme. “Wo alle Ansichten zusammentreffen. Der Architekt nannte es den ‘Schnittpunkt der Unmöglichkeiten’. Wenn du dort stehst, siehst du jeden Raum, den du je betreten hast, gleichzeitig. Und jeden Raum, den du niemals betreten wirst.”
“Was passiert, wenn ich hindurchgehe?”
“Du gehst nicht hindurch. Du wirst hindurchgefaltet. Wie ein Stück Papier, das sich selbst enthält.”
Ich näherte mich trotzdem. Die Form pulsierte – nicht mit Licht, sondern mit Möglichkeit. Jedes Mal, wenn ich sie ansah, war sie anders arrangiert. Die Flächen tauschten Plätze, die Winkel verschoben sich, die Farben bluteten ineinander und trennten sich wieder.
Als ich direkt davor stand, verstand ich: Es war keine Form. Es war eine Entscheidung. Eine gebaute Frage. Der Architekt hatte sie hier installiert wie eine Falle, wie einen Test, wie eine Einladung zum Wahnsinn.
Ich trat hinein.
Der Raum explodierte in Ansichten. Ich sah mich selbst aus hundert Winkeln gleichzeitig – von oben, von unten, von innen, von außen, von Momenten, die bereits vergangen waren, und von solchen, die noch bevorstanden. Das türkisfarbene Treppenhaus breitete sich über meinem Kopf aus. Der magentafarbene Innenhof öffnete sich zu meinen Füßen. Das Weiße leuchtete in meinem Rücken wie eine niemals gehaltene Verheißung.
Und dann, in der Mitte aller Perspektiven, sah ich ihn: den Architekten.
Er war keine Person. Er war eine Struktur. Ein Gerüst aus schwarzen Linien, gefüllt mit violettem Licht, zusammengehalten von der puren Unmöglichkeit seiner eigenen Existenz. Er drehte sich – oder der Raum drehte sich um ihn – und aus jedem Winkel war er ein anderes Gebäude, ein anderer Grundriss, ein anderer Alptraum.
“Du hast es geschafft”, sagte er. Seine Stimme kam nicht von einer Quelle, sondern von allen Perspektiven gleichzeitig. “Du bist der Erste seit langem, der bis hierher gekommen ist, ohne sich in eine Farbe aufzulösen.”
“Was willst du?”
“Wollen?” Er lachte. Das Lachen war ein Geräusch wie brechendes Glas, wie fallende Würfel, wie umstürzende Gleichungen. “Ich will nicht mehr. Ich bin. Das Gebäude hat mich absorbiert. Oder ich habe das Gebäude absorbiert. Wir sind dasselbe geworden – eine Struktur, die sich selbst betrachtet.”
Die violetten Wände um uns herum begannen sich zu bewegen. Nicht zu verschieben, sondern sich neu zu denken. Sie falteten sich in andere Konfigurationen, testeten alternative Geometrien, verwarfen sie, probierten neue.
“Aber du”, sagte der Architekt, “du bist noch nicht Teil der Struktur. Du bewegst dich noch linear. Du glaubst noch an Anfänge und Enden. Das ist deine Schwäche. Und deine einzige Hoffnung.”
“Hoffnung auf was?”
“Auf Entkommen. Oder auf Ankunft. Hier ist beides dasselbe.”
Er streckte etwas aus – keine Hand, eher eine Projektion, eine Fläche aus schwarzen Linien und violettem Schimmer. Darin lag ein Schlüssel. Nein, kein Schlüssel. Ein Winkel. Eine spezifische Neigung, ein Grad, eine Richtung, die alle anderen Richtungen negierte.
“Nimm ihn”, sagte der Architekt. “Er zeigt dir den Weg nach oben. Oder nach unten. Oder nach innen. Du wirst erst verstehen, wenn du angekommen bist.”
Ich griff danach. Der Winkel schnitt in meine Handfläche – nicht physisch, sondern konzeptuell. Ich fühlte, wie mein Verständnis von Raum sich verschob, wie meine Wahrnehmung sich neu kalibrierte.
Die Kammer der Ansichten begann zu schrumpfen. Oder ich begann zu wachsen. Die violetten Flächen zogen sich zurück, die schwarzen Linien verblassten, das Orange in den Rissen verlosch.
“Eines noch”, sagte der Architekt, bereits auflösend. “Das Gebäude ist nicht nur ein Ort. Es ist eine Sprache. Jeder Raum ein Satz. Jede Farbe ein Verb. Wenn du alle Kapitel durchschritten hast, wirst du verstehen, was es sagt.”
“Was sagt es?”
Seine Antwort war das letzte, was ich hörte, bevor die Kammer sich in einen neuen Korridor verwandelte:
“‘Ich bin der Ort, an dem Aufsteigen bedeutet zu bleiben.’”
Dann war er fort. Und ich stand in einem schmalen Durchgang, dessen Wände aus purem, unentschiedenem Grau waren. Vor mir: eine Treppe.
Sie führte nach oben.
Ich wusste bereits, dass sie mich tiefer bringen würde.
Chapter 3: The Chamber of Simultaneous Views
The white spat me out like a foreign object.
I didn’t land. I materialized—in a space that was already broken before it had ever been whole.
Purple. But not a soft purple, not evening light, not lavender. An aggressive, piercing purple that looked like coagulated aggression.
The walls—if the jagged surfaces around me could still be called walls—were folded in on themselves, layered, pushed into each other like failed card games. Some segments protruded forward, others receded, some existed in both states at once. Black lines cut through everything. Not painted.
Grown. As if they were the predetermined breaking points of reality itself, the places where the building had decided to break with itself.
I tried to take a step, but the direction was unclear. The floor consisted of the same fragmented surfaces as the walls—purple, pink, black, gray—all at angles to each other that made no sense. Some surfaces were horizontal, others vertical, some floated at an angle between the two that was neither one nor the other.
“You are in the Chamber of Views,” said a new voice. Deeper than the one from the courtyard. More tired. “Here, the architect tried to see all perspectives at once. He believed that if he could just find the right angle, the building would make sense.”
“Did it work?”
“Look around.”
I did. And I understood: the room wasn’t broken. It was multiplied. Each surface was the same surface, only seen from a different angle. What looked like a wall from here was a floor from there. What was a passageway from the left became a closed block from the right. The room didn’t exist in one version, but in a thousand simultaneous ones.
In some places, orange shone through—small windows, cracks in the violet, as if another time had strayed here. Through one of the cracks, I saw a staircase. Turquoise. The first chapter, still existing, parallel to this one.
I moved. But movement was not a linear thing here. With every step I took, I changed perspective. What had just been in front of me was suddenly beside me. The floor tilted without moving. My own position in the room was unstable—not because I was falling, but because the room itself couldn’t decide where I should be.
The black lines thickened the closer I got to them. They weren’t shadows. They were absences—places where the building had stopped trying to make sense. Where these lines crossed, holes appeared. Not holes in something, but holes of something—the negation of space itself.
“The architect,” the voice continued, “spent seven years here. Or seven minutes. Time was as divided as space. He drew plans on purple paper with black ink. Every line he drew split as it dried. One line became two. Two became four. In the end, he had millions of lines, but none of them led anywhere.”
I reached out and touched one of the purple surfaces. It felt like velvet. No, like ice. No, like both at the same time. My fingers sank in, but also remained on the surface. I was both inside and outside.
A little further ahead—or behind, or above, directions had lost their meaning—a shape protruded. Geometrically complex. Multiple planes intersecting, impossible to coexist, yet doing so. It glowed an intense magenta, edged with black, interspersed with pale grays.
“That’s the intersection,” said the voice.
“Where all views converge. The architect called it the ‘intersection of impossibilities’. When you stand there, you see every space you have ever entered at the same time. And every space you will never enter.”
“What happens when I walk through it?”
“You don’t walk through it. You are folded through it. Like a piece of paper that contains itself.”
I approached it anyway. The shape pulsed—not with light, but with possibility. Every time I looked at it, it was arranged differently. The surfaces swapped places, the angles shifted, the colors bled into each other and separated again.
When I stood directly in front of it, I understood: it wasn’t a shape. It was a decision. A constructed question. The architect had installed it here like a trap, like a test, like an invitation to madness.
I stepped inside.
The room exploded into views. I saw myself from a hundred angles at once—from above, from below, from inside, from outside, from moments that had already passed and from those that were yet to come. The turquoise staircase spread out above my head. The magenta courtyard opened up at my feet. The white glowed behind me like a promise never kept.
And then, in the middle of all the perspectives, I saw him: the architect.
He was not a person. He was a structure. A framework of black lines filled with violet light, held together by the sheer impossibility of his own existence. He turned—or the room turned around him—and from every angle he was a different building, a different floor plan, a different nightmare.
“You made it,” he said. His voice came not from one source, but from all perspectives at once. “You are the first in a long time to get this far without dissolving into color.”
“What do you want?”
“Want?” He laughed. The laughter was a sound like breaking glass, like falling dice, like collapsing equations. “I don’t want anymore. I am. The building has absorbed me. Or I have absorbed the building. We have become the same thing—a structure that contemplates itself.”
The purple walls around us began to move. Not to shift, but to rethink themselves. They folded into different configurations, tested alternative geometries, discarded them, tried new ones.
“But you,” said the architect, “you are not yet part of the structure. You still move linearly. You still believe in beginnings and endings. That is your weakness. And your only hope.“
”Hope for what?“
”For escape. Or for arrival. Here, both are the same.”
He held out something—not a hand, more like a projection, a surface of black lines and purple shimmer. Inside it lay a key. No, not a key. An angle. A specific inclination, a degree, a direction that negated all other directions.
“Take it,” said the architect. “It will show you the way up. Or down. Or in. You will only understand when you arrive.”
I reached for it. The angle cut into my palm—not physically, but conceptually. I felt my understanding of space shift, my perception recalibrate.
The chamber of views began to shrink. Or I began to grow. The purple surfaces receded, the black lines faded, the orange in the cracks disappeared.
“One more thing,” said the architect, already dissolving. “The building is not just a place. It is a language. Each room is a sentence. Each color is a verb. When you have passed through all the chapters, you will understand what it says.”
“What does it say?”
His answer was the last thing I heard before the chamber transformed into a new corridor:
“‘I am the place where ascending means staying.’”
Then he was gone. And I stood in a narrow passageway whose walls were pure, undecided gray. In front of me: a staircase.
It led upward.
I already knew it would take me deeper.


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