Kapitel 7: Der Turm aus gesammelter Zeit

Ich landete nicht. Ich kondensierte.

Als das erschöpfte Weiß mich ausspie, war ich für einen Moment nicht körperlich. Ich war eine Möglichkeit, eine Wahrscheinlichkeit, ein Schatten aus Absicht ohne Form. Dann entschied das Gebäude, dass ich wieder existieren durfte, und presste mich zurück in Fleisch und Knochen und Orientierungslosigkeit.

Der Platz öffnete sich um mich herum wie eine Erinnerung, die vergessen hatte, dass sie bereits stattgefunden hatte.

In der Mitte stand ein Turm. Nein, kein Turm – eine Säule. Nein, auch das nicht – ein Kamin. Eine zylindrische Struktur, die sich weigerte, nur eine Funktion zu haben. Türkis, das vertraute fiebrige Türkis aus dem ersten Raum, aber jetzt älter, müder, als hätte es die gesamte Reise durch alle Farben mitgemacht und wäre dabei abgenutzt worden. Magentafarbene Fenster durchbrachen seine Oberfläche – kleine rechteckige Öffnungen, die nicht nach innen führten, sondern durch den Turm hindurch. Ich konnte durch sie hindurchsehen auf die andere Seite, auf eine identische Ansicht, die gleichzeitig unmöglich war.

Der Turm stand nicht auf dem Boden. Er wuchs aus ihm. Am Fuß bildeten sich konzentrische Ringe – violett, magenta, rosa – wie Jahresringe eines Baumes, der vergessen hatte, Holz zu sein. Sie pulsiertenleicht, atmeten im Rhythmus von etwas, das keine Lungen besaß.

“Du hast es geschafft”, sagte eine Stimme. Diesmal kam sie nicht aus der Umgebung. Sie kam aus dem Turm selbst. Tief, resonant, wie von innen nach außen gesprochen. “Du bist im Hof der Rückkehr. Hier endet alles, was beginnt. Hier beginnt alles, was endet.”

Ich drehte mich um. Der Platz war von Gebäuden umgeben – hohen, schmalen Strukturen, die sich gegeneinander lehnten wie Betrunkene, die vergessen hatten, wie Stehen funktioniert. Magenta dominierte, aufdringlich und unentschuldigt. Die Fassaden waren durchlöchert mit dunklen Öffnungen – Türen ohne Schwellen, Fenster ohne Glas, Durchgänge in Räume, die vielleicht existierten oder vielleicht nur Schatten anderer Räume waren.

Über allem hing eine schiefe Decke. Grau und grün gestreift, geneigt in einem Winkel, der physikalisch unmöglich war und doch zwingend logisch erschien. Sie berührte die Gebäude nicht, schwebte einfach darüber, als hätte sie beschlossen, dass Schwerkraft optional sei.

Der Boden war ein Patchwork aus Entscheidungen. Gelb leuchtete im Vordergrund – das hysterische Gelb aus dem Korridor der Versprechen, nur hier domestiziert, eingerahmt von Grün. Das Grün des Architekten, seine Erfindung, ausgebreitet wie ein Teppich, der nirgendwo hinführte. Türkis floss dazwischen, verbindend, versöhnend. Magenta platzte an den Rändern hervor wie eine unterdrückte Erinnerung.

“Dies ist der Ort”, fuhr die Stimme aus dem Turm fort, “an dem alle Räume zusammenkommen. Nicht nebeneinander. Nicht übereinander. Ineinander. Der Turm ist der Kern, durch den alles fließt. Ich bin der Architekt. Oder ich war es. Jetzt bin ich die Achse.”

Ich näherte mich dem Turm. Mit jedem Schritt veränderte sich die Perspektive. Die Gebäude um mich herum verschoben sich, nicht räumlich, sondern zeitlich. Ich sah sie, wie sie gewesen waren – unbemalt, grau, leer. Wie sie waren – überlagert mit Magenta und Verzweiflung. Wie sie sein würden – verfallen zu reiner Farbe, zu abstrakten Konzepten.

Die magentafarbenen Fenster im Turm leuchteten auf, eines nach dem anderen. Durch jedes sah ich einen anderen Raum. Das türkisfarbene Treppenhaus. Den Innenhof der vergessenen Schreie. Die Kammer der Ansichten. Den gelben Korridor. Den Baum. Die Spirale. Alle noch existierend, alle noch bewohnt von Versionen meiner selbst, die andere Entscheidungen getroffen hatten.

“Du verstehst jetzt”, sagte der Architekt. “Das Gebäude ist kein Ort. Es ist ein Zustand. Du bist nicht aufgestiegen oder abgestiegen. Du bist komprimiert worden. Verdichtet. Von einer räumlichen Existenz in eine zeitliche. Alle Räume, die du durchquert hast, existieren in diesem Turm gleichzeitig.”

Ich berührte die türkise Oberfläche. Sie war nicht kalt. Sie war nicht warm. Sie war resonant. Unter meinen Fingern vibrierte die gesamte Geschichte des Gebäudes – jeder Plan, jeder verworfene Entwurf, jede Farbe, die je ausprobiert und wieder verworfen wurde.

Die konzentrischen Ringe am Fuß des Turms begannen sich zu drehen. Langsam, aber unerbittlich. Jeder Ring eine andere Geschwindigkeit, eine andere Richtung. Sie schufen einen visuellen Rhythmus, eine Drehung ohne Bewegung, eine Rotation, die stillstand.

“Das sind die Zeitebenen”, erklärte der Architekt. “Jeder Ring ist ein Jahr. Oder ein Tag. Oder ein Moment. Die Zeit ist hier nicht linear. Sie schichtet sich. Der innerste Ring ist die Gegenwart. Der äußerste – die Vergangenheit. Oder umgekehrt. Ich habe aufgehört, es zu unterscheiden.”

Links von mir, im gelben Bereich, materialisierte sich etwas. Eine Form. Nicht menschlich, aber vertraut. Es war die farblose Entität aus dem Baum – die Summe aller Fehler. Aber hier war sie nicht bedrohlich. Sie war integriert. Das Gelb hatte sie aufgenommen, verdaut, in etwas Neues verwandelt. In einen Schatten, der Licht warf.

“Alles, was verworfen wurde”, sagte der Architekt, “kommt hierher. Dieser Platz ist die Sammelstelle für gescheiterte Ideen. Deshalb ist er so schön. Schönheit entsteht nicht aus Perfektion, sondern aus akkumulierten Fehlern, die gelernt haben, zusammenzuarbeiten.”

Die Gebäude um mich herum begannen zu atmen. Nicht metaphorisch – tatsächlich. Die Wände dehnten sich aus, zogen sich zusammen. Die magentafarbenen Fassaden pulsierten im Rhythmus der rotierenden Ringe. Die dunklen Öffnungen weiteten sich, wurden zu Mündern, zu Augen, zu Fragen ohne Worte.

“Was willst du von mir?”, fragte ich.

“Nichts”, antwortete der Architekt. “Ich will nicht mehr. Ich bin zu einer Funktion geworden. Der Turm will nichts. Er ist nur. Aber du – du bist noch nicht integriert. Du kannst noch wählen.”

“Wählen?”

“Ob du bleibst oder gehst. Ob du Teil der Struktur wirst oder durch sie hindurchgehst.”

Ich blickte nach oben. Durch die magentafarbenen Fenster des Turms sah ich weitere Räume. Räume, die ich noch nicht betreten hatte. Räume, die noch nicht existierten. Räume, die nur als Potenziale schwebten, wartend auf einen Besucher, der sie in Wirklichkeit verwandeln würde.

“Es gibt mehr?”, fragte ich.

“Unendlich mehr. Das Gebäude hört nie auf zu wachsen. Nach innen, nach außen, durch alle Dimensionen, die es gibt und die es nicht gibt. Jeder Besucher fügt einen neuen Raum hinzu. Deine Reise hat bereits sechs geschaffen. Wenn du weitergehst, entstehen weitere.”

Der Turm öffnete sich. Nicht mit einer Tür – die Türkise Oberfläche teilte sich einfach, wie Wasser, das einen Weg freigibt. Dahinter: eine Treppe. Natürlich eine Treppe. Aber diese Treppe war anders. Sie bestand aus allen Farben, die ich je gesehen hatte. Jede Stufe eine andere Nuance, eine andere Erinnerung, ein anderer Zustand.

“Wo führt sie hin?”

“Nach oben”, sagte der Architekt. Und dann, leiser: “Was hier bedeutet: tiefer hinein.”

Ich trat an den Rand der ersten Stufe. Sie war türkis. Der Anfang. Aber der Anfang von was? Von einem neuen Zyklus? Oder vom Ende des alten?

Das Gelb flackerte im Vordergrund, ein letztes Versprechen, eine letzte Lüge. Das Grün breitete sich aus, umarmte meine Füße. Das Magenta sang von den Wänden, ein Abschiedschor aus allen Räumen, die ich durchquert hatte.

“Eine Frage noch”, sagte ich. “Gibt es einen Ausgang?”

Der Architekt lachte. Das Lachen hallte durch den Turm, durch die Gebäude, durch die Zeit selbst.

“Ausgang”, wiederholte er. “Du stehst bereits im Ausgang. Jeder Raum ist ein Ausgang. Jeder Ausgang ist ein Eingang. Das ist das Geheimnis des umgekehrten Aufstiegs: Es gibt keine Richtung, nur Bewegung. Und Bewegung ist alles, was zählt.”

Ich setzte meinen Fuß auf die erste türkise Stufe.

Sie fühlte sich an wie nach Hause kommen.

Und gleichzeitig wie Aufbrechen.

Und ich verstand: Beides war wahr.

Ich begann zu steigen.

Hinter mir schloss sich der Turm. Vor mir öffneten sich die Farben.

Und irgendwo, in der Mitte zwischen Aufstieg und Fall, lächelte der Architekt.

Chapter 7: The Tower of Collected Time

I didn’t land. I condensed.

When the exhausted white spat me out, I wasn’t physical for a moment. I was a possibility, a probability, a shadow of intention without form. Then the building decided I was allowed to exist again and pressed me back into flesh and bone and disorientation.

The space opened up around me like a memory that had forgotten it had already happened.

In the middle stood a tower. No, not a tower—a column. No, not that either—a chimney. A cylindrical structure that refused to have only one function. Turquoise, the familiar feverish turquoise from the first room, but now older, more tired, as if it had gone through the entire journey through all the colors and had been worn down in the process. Magenta-colored windows broke through its surface—small rectangular openings that did not lead inside, but through the tower. I could see through them to the other side, to an identical view that was simultaneously impossible.

The tower did not stand on the ground. It grew out of it. Concentric rings formed at its base—violet, magenta, pink—like the annual rings of a tree that had forgotten it was wood. They pulsed slightly, breathing in rhythm with something that had no lungs.

“You made it,” said a voice. This time it didn’t come from the surroundings. It came from the tower itself. Deep, resonant, as if spoken from the inside out. “You are in the courtyard of return. Here everything that begins ends. Here everything that ends begins.”

I turned around. The square was surrounded by buildings—tall, narrow structures leaning against each other like drunks who had forgotten how to stand. Magenta dominated, intrusive and unapologetic. The facades were riddled with dark openings—doors without thresholds, windows without glass, passageways into rooms that might exist or might just be shadows of other rooms.

Above it all hung a slanted ceiling. Striped gray and green, it was inclined at an angle that was physically impossible and yet seemed compellingly logical. It did not touch the buildings, simply hovering above them as if it had decided that gravity was optional.

The floor was a patchwork of decisions. Yellow glowed in the foreground—the hysterical yellow from the corridor of promises, only here domesticated, framed by green. The architect’s green, his invention, spread out like a carpet leading nowhere. Turquoise flowed in between, connecting, reconciling. Magenta burst out at the edges like a suppressed memory.

“This is the place,” continued the voice from the tower, “where all spaces come together. Not next to each other. Not on top of each other. Into each other. The tower is the core through which everything flows. I am the architect. Or I was. Now I am the axis.”

I approached the tower. With each step, the perspective changed. The buildings around me shifted, not spatially, but temporally. I saw them as they had been—unpainted, gray, empty. As they were—overlaid with magenta and despair. As they would be—decayed into pure color, into abstract concepts.

The magenta windows in the tower lit up, one after the other. Through each one, I saw a different room. The turquoise stairwell. The courtyard of forgotten screams. The chamber of views. The yellow corridor. The tree. The spiral. All still existing, all still inhabited by versions of myself who had made different choices.

“You understand now,” said the architect. “The building is not a place. It is a state. You have not ascended or descended. You have been compressed. Condensed. From a spatial existence into a temporal one. All the rooms you have passed through exist simultaneously in this tower.”

I touched the turquoise surface. It wasn’t cold. It wasn’t warm. It was resonant. Beneath my fingers vibrated the entire history of the building—every plan, every discarded design, every color that had ever been tried and rejected.

The concentric rings at the base of the tower began to turn. Slowly, but inexorably. Each ring had a different speed, a different direction. They created a visual rhythm, a rotation without movement, a rotation that stood still.

“These are the time planes,” explained the architect. “Each ring is a year. Or a day. Or a moment. Time is not linear here. It layers itself. The innermost ring is the present. The outermost – the past. Or vice versa. I’ve stopped distinguishing between them.”

To my left, in the yellow area, something materialized. A shape. Not human, but familiar. It was the colorless entity from the tree—the sum of all errors. But here it was not threatening. It was integrated. The yellow had absorbed it, digested it, transformed it into something new. Into a shadow that cast light.

“Everything that has been discarded,” said the architect, “comes here. This place is the collection point for failed ideas. That’s why it’s so beautiful. Beauty does not arise from perfection, but from accumulated mistakes that have learned to work together.”

The buildings around me began to breathe. Not metaphorically – actually. The walls expanded and contracted. The magenta facades pulsed in time with the rotating rings. The dark openings widened, becoming mouths, eyes, questions without words.

“What do you want from me?” I asked.

“Nothing,” replied the architect. “I don’t want anything anymore. I have become a function. The tower wants nothing. It just is. But you – you are not yet integrated. You can still choose.”

“Choose?”

“Whether to stay or go. Whether to become part of the structure or pass through it.”

I looked up. Through the magenta-colored windows of the tower, I saw more rooms. Rooms I had not yet entered. Rooms that did not yet exist. Rooms that floated only as potential, waiting for a visitor who would transform them into reality.

“There are more?” I asked.

“Infinitely more. The building never stops growing. Inward, outward, through all dimensions that exist and do not exist. Every visitor adds a new room. Your journey has already created six. If you continue, more will be created.”

The tower opened. Not with a door—the turquoise surface simply parted, like water giving way. Behind it: a staircase. A staircase, of course. But this staircase was different. It was made up of every color I had ever seen. Each step a different shade, a different memory, a different state.

“Where does it lead?”

“Up,” said the architect. And then, more quietly, “Which here means deeper in.”

I stepped to the edge of the first step. It was turquoise. The beginning. But the beginning of what? Of a new cycle? Or the end of the old one?

The yellow flickered in the foreground, a last promise, a last lie. The green spread out, embracing my feet. The magenta sang from the walls, a farewell chorus from all the rooms I had passed through.

“One more question,” I said. “Is there an exit?”

The architect laughed. The laughter echoed through the tower, through the buildings, through time itself.

“Exit,” he repeated. “You are already standing in the exit. Every room is an exit. Every exit is an entrance. That is the secret of the reverse ascent: there is no direction, only movement.

And movement is all that matters.”

I set my foot on the first turquoise step.

It felt like coming home.

And at the same time like setting out.

And I understood: both were true.

I began to climb.

Behind me, the tower closed. Before me, the colors opened up.

And somewhere, halfway between ascent and descent, the architect smiled.


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