Kapitel 12: Der Korridor aus erschöpfter Farbe

Nachdem ich Sicht geworden war, zeigte mir das Gebäude seine Müdigkeit.

Die Intensität war fort. Das schreiende Magenta, das aggressive Gelb, das pulsierende Türkis – alle hatten sich zurückgezogen, waren in sich zusammengefallen wie Lungen nach dem letzten Ausatmen. Was übrig blieb, war Grau. Aber nicht das Grau des Nichts. Das Grau der Erschöpfung. Das Grau, das entsteht, wenn alle Farben gleichzeitig aufgeben.

Ich stand in einem Korridor.

Endlich, nach all den unmöglichen Räumen, ein tatsächlicher Korridor. Mit Wänden, die parallel liefen. Mit einer Decke, die horizontal blieb. Mit einem Boden, der sich nicht drehte, nicht pulsierte, nicht versuchte, mich zu verschlucken. Fast normal. Fast real.

Aber nur fast.

Die Wände waren aus Braun. Nicht dem Braun von Holz oder Erde. Dem Braun von verbrauchter Farbe. Von Pigmenten, die zu oft gemischt wurden, die ihre Identität verloren hatten. Beige floß darüber wie ein dünner Film aus Resignation. Lavendelgraue Schatten krochen an den Rändern entlang – das letzte Echo des Violetts, das einmal so dominant gewesen war, jetzt reduziert zu einem müden Flüstern.

Blaue Linien durchzogen alles. Nicht das leuchtende Türkis des Anfangs. Ein stumpfes, blasses Blau. Die Farbe von Venen unter alter Haut. Diese Linien definierten die Struktur – die Kanten der rechteckigen Paneele an Decke und Wänden, die Stufen im Boden, die Übergänge zwischen den Flächen. Sie waren das letzte Argument für Ordnung in einer Welt, die Ordnung aufgegeben hatte.

“Das ist der Ort”, sagte eine Stimme – aber so leise, dass ich kaum sicher war, ob ich sie hörte oder erinnerte – “wo das Gebäude sich ausruht.”

Ich ging. Jeder Schritt ein dumpfes Echo. Der Boden bestand aus versetzten Rechtecken, manche ein wenig tiefer als andere, wie Tasten eines riesigen Instruments, das vergessen hatte, welche Melodie es spielen sollte. Beige, Braun, Lavendel – die Farben wechselten, aber so subtil, dass der Wechsel eher gefühlt als gesehen wurde.

Die Decke über mir war in quadratische Segmente unterteilt. Jedes Segment eine leicht andere Nuance von Braun oder Grau, als hätte jemand versucht, eine Variation zu schaffen, aber die Energie verloren auf halbem Weg. Zwischen den Segmenten: die blauen Linien, präzise und hoffnungslos.

“Nach der Intensität”, fuhr die Stimme fort, “kommt immer die Erschöpfung. Das Gebäude kann nicht permanent in Magenta brennen. Es kann nicht ewig in Gelb schreien. Es braucht Räume wie diesen. Räume, in denen Farbe sich zurückzieht und grau wird, um sich zu erholen.”

Die Perspektive des Korridors war perfekt. Lehrbuchhaft. Alle Linien konvergierten zu einem Fluchtpunkt in der Ferne, so präzise, dass es fast aggressiv wirkte. Als hätte das Gebäude beschlossen: Wenn ich schon erschöpft bin, dann bin ich korrekt erschöpft. Mit perfekter Geometrie. Mit ordentlichen rechten Winkeln.

An den Wänden: rechteckige Einbuchtungen. Vertikale Streifen, dunkler als der Rest. Fenster, die nirgendwohin führten. Oder Türen, die vergessen hatten sich zu öffnen. Sie waren regelmäßig verteilt, rhythmisch, wie Herzschläge, die langsamer wurden.

“Der Architekt”, sagte die Stimme, “hat diesen Korridor als Letztes gebaut. Nachdem er alle anderen Räume geschaffen hatte. Nachdem er Türkis erfunden, Magenta domestiziert, Gelb gezähmt hatte. Am Ende war er so müde, dass er nur noch Braun zustande brachte. Aber er war stolz darauf. Er nannte es ‘den ehrlichen Raum’. Den einzigen Raum, der nicht lügt.”

Ich berührte eine der Wände. Sie war nicht glatt. Unter der braunen Oberfläche spürte ich Texturen – die Spuren aller Farben, die hier gewesen waren, bevor sie zu Grau geworden waren. Ein Hauch von Magenta. Ein Echo von Türkis. Ein Schatten von Gelb. Alles überlagert, übermalt, neutralisiert zu diesem universellen Braun.

Der Korridor erstreckte sich endlos nach vorne. Oder er war sehr kurz, und die Perspektive log. Ich konnte es nicht sagen. Mit jedem Schritt schien der Fluchtpunkt sich zurückzuziehen, blieb in derselben Entfernung, wie ein Horizont, der nicht erreicht werden will.

“Das ist die Wahrheit des Gebäudes”, sagte die Stimme. “Nach all der Unmöglichkeit, nach all den Paradoxen und den Farbexplosionen – ist es nur ein Korridor. Braun. Müde. Fast normal. Vielleicht war es das immer. Und alles andere war nur… Ausschmückung.”

Ich blieb stehen. Die Idee war beunruhigend. Dass all die Intensität – das schreiende Magenta, das vibrierende Türkis, die Spirale, der Baum, das Gefäß – nur Dekorationen gewesen waren. Dass das wahre Gebäude dieser einfache, erschöpfte Korridor war.

“Nein”, sagte ich. Meine Stimme klang fremd in diesem Raum. Zu laut. Zu farbig. “Das ist nicht die Wahrheit. Das ist die Lüge.”

Die Stimme schwieg.

“Dieser Raum”, fuhr ich fort, “behauptet, ehrlich zu sein, weil er grau ist. Weil er einfach ist. Aber Einfachheit ist keine Ehrlichkeit. Es ist Erschöpfung, die sich als Weisheit tarnt.”

Die blauen Linien an den Wänden begannen zu leuchten. Nicht hell – nur ein wenig intensiver als zuvor. Als hätten sie auf diese Aussage gewartet.

“Das Gebäude”, sagte ich, “ist nicht dieser Korridor. Das Gebäude ist alles zusammen. Das Türkis und das Grau. Das Magenta und das Braun. Die Spirale und die gerade Linie. Du kannst nicht die Erschöpfung nehmen und sagen: Das ist die Wahrheit. Die Wahrheit ist der ganze Zyklus.”

Der Korridor begann sich zu verändern. Unmerklich zuerst. Ein Hauch von Rosa sickerte in die Wände. Ein blasses Gelb erschien in einem der Deckensegmente. Das Lavendel intensivierte sich zu einem echten Violett.

“Du verstehst”, sagte die Stimme, und sie klang jetzt weniger müde. “Deshalb hat das Gebäude dich zur Sicht gemacht. Nicht um den erschöpften Blick zu sehen. Sondern um zu sehen, was unter der Erschöpfung liegt. Was durch sie hindurchscheint.”

Die Farben kehrten zurück. Langsam, zögerlich, wie Blut in eingefrorene Glieder. Das Braun wurde zu Orange. Das Beige zu Gelb. Das Grau erwachte zu Türkis. Die blauen Linien pulsierten stärker, definierten die Struktur neu, gaben ihr Bedeutung zurück.

“Dieser Korridor”, sagte die Stimme, “war ein Test. Um zu sehen, ob du in der Erschöpfung stecken bleibst. Ob du akzeptierst, dass nach der Intensität nur Grau kommt. Viele tun das. Sie erreichen diesen Korridor und denken: Ja. Das ist die Auflösung. Hier bleibe ich.”

“Aber du nicht.”

Ich ging weiter. Mit jedem Schritt wurden die Farben intensiver. Das Orange leuchtete wärmer. Das Violett wurde tiefer. Ein Hauch von Magenta erschien in den Ecken. Das Türkis breitete sich aus wie eine Erinnerung, die zur Gegenwart wurde.

Am Ende des Korridors – und plötzlich gab es ein Ende – öffnete sich etwas. Kein Raum. Kein Durchgang. Eine Schwelle. Der Übergang zwischen Erschöpfung und Erneuerung. Zwischen Grau und Farbe. Zwischen dem Ende des umgekehrten Aufstiegs und dem Beginn von etwas, das noch keinen Namen hatte.

“Gehst du hindurch”, sagte die Stimme, “beginnst du neu. Nicht von vorne. Aber neu. Mit allem, was du gelernt hast. Mit allen Farben, die du getrunken hast. Mit der Sicht, die du geworden bist.”

Ich stand an der Schwelle.

Hinter mir: der Korridor, jetzt wieder farbig, aber immer noch erschöpft. Ein Ort der Ruhe. Ein Ort, an dem man bleiben konnte, wenn man wollte.

Vor mir: ein Licht, das keine Farbe hatte, weil es alle Farben war.

Ich trat hindurch.

Und das Gebäude atmete aus.

Und ein.

Und begann, sich neu zu träumen.

Chapter 12: The Corridor of Exhausted Color

Once I became visible, the building showed me its weariness.

The intensity was gone. The screaming magenta, the aggressive yellow, the pulsating turquoise—all had receded, collapsed in on themselves like lungs after their last exhalation. What remained was gray. But not the gray of nothingness. The gray of exhaustion. The gray that arises when all colors give up at once.

I was standing in a corridor.

Finally, after all the impossible rooms, an actual corridor. With walls that ran parallel. With a ceiling that remained horizontal. With a floor that didn’t spin, didn’t pulsate, didn’t try to swallow me. Almost normal. Almost real.

But only almost.

The walls were brown. Not the brown of wood or earth. The brown of worn-out paint. Of pigments that had been mixed too often, that had lost their identity. Beige flowed over it like a thin film of resignation. Lavender-gray shadows crept along the edges—the last echo of the violet that had once been so dominant, now reduced to a tired whisper.

Blue lines ran through everything. Not the bright turquoise of the beginning. A dull, pale blue. The color of veins under old skin. These lines defined the structure—the edges of the rectangular panels on the ceiling and walls, the steps in the floor, the transitions between surfaces. They were the last argument for order in a world that had abandoned order.

“This is the place,” said a voice—but so quietly that I was hardly sure whether I heard it or remembered it—“where the building rests.”

I walked. Each step a dull echo. The floor consisted of staggered rectangles, some slightly deeper than others, like keys of a giant instrument that had forgotten what melody to play. Beige, brown, lavender—the colors changed, but so subtly that the change was felt rather than seen.

The ceiling above me was divided into square segments. Each segment was a slightly different shade of brown or gray, as if someone had tried to create variation but lost energy halfway through. Between the segments: the blue lines, precise and hopeless.

“After intensity,” the voice continued, “always comes exhaustion. The building cannot burn permanently in magenta. It cannot scream forever in yellow. It needs spaces like this. Spaces where color recedes and turns gray to recover.”

The perspective of the corridor was perfect. Textbook perfect. All lines converged at a vanishing point in the distance, so precise that it seemed almost aggressive. As if the building had decided: If I am exhausted, then I am correctly exhausted. With perfect geometry. With neat right angles.

On the walls: rectangular indentations. Vertical stripes, darker than the rest. Windows that led nowhere. Or doors that had forgotten to open. They were evenly spaced, rhythmic, like heartbeats slowing down.

“The architect,” said the voice, “built this corridor last. After he had created all the other rooms. After he had invented turquoise, domesticated magenta, tamed yellow. In the end, he was so tired that he could only manage brown. But he was proud of it. He called it ‘the honest room’. The only room that doesn’t lie.”

I touched one of the walls. It wasn’t smooth. Under the brown surface, I could feel textures – the traces of all the colors that had been here before they turned gray. A hint of magenta. An echo of turquoise. A shadow of yellow. Everything layered, painted over, neutralized into this universal brown.

The corridor stretched endlessly ahead. Or it was very short, and the perspective was deceiving. I couldn’t tell. With every step, the vanishing point seemed to recede, remaining at the same distance, like a horizon that refuses to be reached.

“That is the truth of the building,” said the voice. “After all the impossibility, after all the paradoxes and color explosions—it is just a corridor. Brown. Tired. Almost normal. Maybe it always was. And everything else was just… decoration.”

I stopped. The idea was unsettling. That all the intensity—the screaming magenta, the vibrant turquoise, the spiral, the tree, the vessel—had been nothing but decoration. That the true building was this simple, exhausted corridor.

“No,” I said. My voice sounded strange in this room. Too loud. Too colorful. “That’s not the truth. That’s the lie.”

The voice fell silent.

“This room,” I continued, “claims to be honest because it is gray. Because it is simple. But simplicity is not honesty. It is exhaustion masquerading as wisdom.”

The blue lines on the walls began to glow. Not brightly—just a little more intensely than before. As if they had been waiting for this statement.

“The building,” I said, “is not this corridor. The building is everything together. The turquoise and the gray. The magenta and the brown. The spiral and the straight line. You can’t take the exhaustion and say: That is the truth. The truth is the whole cycle.”

The corridor began to change. Imperceptibly at first. A hint of pink seeped into the walls. A pale yellow appeared in one of the ceiling segments. The lavender intensified to a true violet.

“You understand,” said the voice, sounding less tired now. “That’s why the building made you see. Not to see the exhausted gaze. But to see what lies beneath the exhaustion. What shines through it.”

The colors returned. Slowly, hesitantly, like blood in frozen limbs. The brown turned to orange. The beige to yellow. The gray awoke to turquoise. The blue lines pulsed more strongly, redefining the structure, giving it meaning again.

“This corridor,” said the voice, “was a test. To see if you would remain stuck in exhaustion. If you would accept that after intensity comes only gray. Many do. They reach this corridor and think: Yes. This is the resolution. This is where I will remain.”

“But not you.”

I continued on. With each step, the colors became more intense. The orange glowed warmer. The violet became deeper. A hint of magenta appeared in the corners. The turquoise spread like a memory that became the present.

At the end of the corridor—and suddenly there was an end—something opened up. Not a room. Not a passageway. A threshold. The transition between exhaustion and renewal. Between gray and color. Between the end of the reverse ascent and the beginning of something that didn’t yet have a name.

“If you go through,” said the voice, “you start anew. Not from the beginning. But anew. With everything you’ve learned. With all the colors you’ve drunk. With the vision you’ve become.”

I stood at the threshold.

Behind me: the corridor, now colorful again, but still exhausted. A place of rest. A place where you could stay if you wanted to.

In front of me: a light that had no color because it was all colors.

I stepped through.

And the building exhaled.

And inhaled.

And began to dream itself anew.


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