Kapitel 17: Der Kubus der gemeinsamen Erschöpfung

Die Kugel zerplatzte nicht. Sie ebbte.

Alle Farben – das schreiende Rot, das optimistische Gelb, das melancholische Violett – zogen sich zurück wie eine Flut, die vergessen hatte wiederzukommen. Was übrig blieb, war Braun. Beige. Die Farbe von Dingen, die aufgegeben hatten, bunt zu sein.

Die Stimmen verstummten nicht. Aber sie wurden leiser. Gedämpfter. Als hätten sie gleichzeitig erkannt, dass Schreien keine Energie mehr übrig ließ.

Und um uns herum – um die Versammlung der inneren Instanzen – materialisierte sich ein Raum, der kaum noch ein Raum war.

Ein Kubus. Oder etwas, das einmal ein Kubus hatte sein wollen. Die Wände aus Braun und Beige, durchzogen von blauen Linien – nicht das leuchtende Türkis des Anfangs, sondern ein müdes, blasses Blau. Die Farbe von Adern unter erschöpfter Haut. Diese Linien definierten Rechtecke, Fenster, Durchgänge, Ebenen – aber alles war durchlässig, transparent, wie durch feuchtes Papier gesehen.

Der Raum hatte mehrere Geschosse. Oder er hatte keine Geschosse, nur die Erinnerung daran, dass es einmal eine Unterscheidung zwischen oben und unten gegeben hatte. Man konnte gleichzeitig den Boden sehen und die Decke, die Vorderwand und die Hinterwand, alle überlagert, alle gleichzeitig präsent.

“Oh”, sagte die Ängstliche. Ihre Stimme – das hellgrüne Zittern – war jetzt kaum mehr als ein Flüstern. “Oh nein. Das ist… das ist…”

“Erschöpfung”, vollendete der Weise. Sein dunkles Grün war zu einem stumpfen Braun verblasst. “Das ist, was passiert, wenn ein Gebäude nicht mehr kann. Wenn alle Farben verbraucht sind.”

“Das ist INAKZEPTABEL”, versuchte das Zornige zu brüllen, aber seine rote Stimme kam nur als gedämpftes Orange heraus. “Wir können nicht in einem… einem… BEIGEN Raum enden! Nach allem, was wir durchgemacht haben!”

“Wir sollten eine Liste machen”, murmelte der Gewissenhafte, aber seine blaue Stimme klang unsicher. “Von allen Farben, die wir verloren haben. Systematisch dokumentieren, wo sie hingegangen sind.”

“Wozu?”, fragte die Widersprecherin. Ihr Violett war zu einem mausgrauen Ton geworden. “Damit wir präzise wissen, wie viel wir verloren haben? Das ist nur deprimierend.”

Die Bestimmerin – die ich bisher noch nicht gehört hatte – meldete sich. Ihre Stimme war ein hartes, entschiedenes Braun. “Wir müssen hier raus. Das ist klar. Dieser Raum ist toxisch. Er saugt die letzte Energie aus uns. Ich schlage vor –”

“Du schlägst immer vor”, unterbrach die Widersprecherin matt.

“Jemand muss”, konterte die Bestimmerin.

“Entschuldigung”, sagte die Soziale, ihre türkise Stimme jetzt so blass, dass sie kaum hörbar war. “Vielleicht sollten wir fragen, wie es allen geht? Ob jemand Unterstützung braucht? Wir sind alle erschöpft, und –”

“NATÜRLICH sind wir alle erschöpft”, sagte das Zornige. “Sieh dich um! Wir sind in einem BEIGEN WÜRFEL gefangen!”

Ich – oder der Rest von mir, der noch etwas wie ein Zentrum hatte – versuchte, den Raum zu verstehen. Die blauen Linien bildeten Rechtecke überall. Manche waren Fenster, die auf andere Teile desselben Raums blickten. Andere waren Türen, die nirgendwohin führten. Wieder andere waren einfach… Linien. Versuche der Struktur, sich zu behaupten, obwohl sie keine Kraft mehr hatte.

“Das ist wie der erschöpfte Korridor”, sagte der Kluge leise. “Aber dreidimensional. Eine Erschöpfung, die sich in alle Richtungen ausbreitet.”

“Ich habe eine Theorie”, meldete sich der Vorauseilende Gehorsam. Seine Stimme – ein nervöses, unterwürfiges Gelb, jetzt zu Ocker verblasst – war hastig. “Vielleicht ist das ein Test? Vielleicht erwartet das Gebäude, dass wir etwas Bestimmtes tun? Sollten wir nicht –”

“Nichts erwartet nichts von uns”, sagte die Widersprecherin. “Das Gebäude ist genauso erschöpft wie wir.”

“Vielleicht”, sagte der Weise langsam, “ist das der Punkt. Dass wir endlich am selben Ort sind wie das Gebäude. Nicht mehr Besucher. Nicht mehr Eindringlinge. Sondern… Mitbewohner seiner Müdigkeit.”

Stille. Die blauen Linien um uns herum pulsierten schwach, wie ein Herzschlag, der langsamer wurde.

“Das ist eigentlich ganz schön”, wagte das Unruhige zu sagen, seine magentafarbene Energie jetzt zu einem fahlen Rosa gedämpft. “Nicht schön im Sinne von hübsch, sondern… ehrlich?”

“Ehrlich”, echote der Fleißige. Sein Gelb war komplett zu Braun geworden. “Ja. Das ist ehrlich. Wir haben so hart gearbeitet, und am Ende – sind wir müde. Das ist nicht glamourös. Aber es ist real.”

“Ich möchte nicht real sein”, flüsterte die Ängstliche. “Real bedeutet endlich. Real bedeutet sterblich.”

“Wir waren immer sterblich”, sagte der Weise sanft.

Der Raum um uns herum begann sich zu verschieben. Nicht dramatisch. Langsam, wie kontinentale Drift. Die Rechtecke schoben sich ineinander, die Ebenen überlappten, die Perspektiven verschmolzen. Es war keine Unmöglichkeit aus Absicht. Es war Unmöglichkeit aus Gleichgültigkeit. Der Raum hatte keine Energie mehr, um kohärent zu bleiben.

“Sollten wir nicht… etwas tun?”, fragte der Plauderer. Seine Stimme – ein geselliges, geschwätziges Pink – war die ganze Zeit still gewesen, zum ersten Mal überhaupt. “Normalerweise rede ich viel, aber hier… was gibt es zu sagen?”

“Vielleicht”, sagte die Bestimmerin, aber ihre Härte war gebrochen, “ist das das Ende. Der umgekehrte Aufstieg endet nicht mit einem Gipfel. Er endet mit… diesem. Mit Beige und Erschöpfung.”

“NEIN”, sagte das Zornige, aber schwach. “Das kann nicht… das darf nicht…”

“Warum nicht?”, fragte die Widersprecherin. “Warum muss jede Geschichte ein triumphales Ende haben? Vielleicht sind manche Geschichten einfach… müde.”

Ich blickte durch die transparenten Wände. Durch die überlagerten Ebenen. Durch alle Rechtecke und Durchgänge und Nicht-Durchgänge. Und sah: nichts Neues. Nur mehr desselben. Braun und Beige und blasse blaue Linien, die sich ins Unendliche fortsetzten.

“Ich habe eine Frage”, sagte ich – und überraschte die Stimmen, die einen Moment lang verstummten.

“Du kannst sprechen?”, fragte die Soziale erstaunt. “Nicht als eine von uns, sondern als… du?”

“Ich glaube schon”, sagte ich. “Und meine Frage ist: Was, wenn das nicht das Ende ist? Was, wenn das der Ort ist, wo wir lernen müssen zusammenzuarbeiten? Ihr habt die ganze Zeit gegeneinander geredet. Gestritten. Widersprochen. Was, wenn der beige Kubus der Ort ist, wo ihr anfangen müsst, euch zuzuhören?”

Stille. Die blauen Linien pulsierten etwas stärker.

“Das ist”, sagte der Gewissenhafte langsam, “eine methodisch interessante Hypothese.”

“Natürlich widerspreche ich”, sagte die Widersprecherin automatisch, dann stockte. “Aber… vielleicht nicht.”

“Wir könnten es versuchen”, sagte der Fleißige.

“Ich habe Angst, dass es nicht funktioniert”, sagte die Ängstliche.

“Natürlich hast du das”, sagte die Bestimmerin, aber sanfter als sonst.

Die Stimmen begannen – zum ersten Mal – tatsächlich miteinander zu reden. Nicht übereinander hinweg. Sondern miteinander.

Und während sie sprachen, geschah etwas Merkwürdiges:

Der beige Kubus begann, sich zu färben.

Nicht viel. Nur ein Hauch.

Ein Hauch von Rosa hier.

Ein Schimmer von Gelb dort.

Ein Flüstern von Türkis in den Ecken.

Die Erschöpfung blieb. Aber sie wurde… bewohnbar.

Und das, verstand ich, war vielleicht das Wertvollste von allem.

Chapter 17: The Cube of Shared Exhaustion

The sphere did not burst. It ebbed away.

All the colors—the screaming red, the optimistic yellow, the melancholic violet—retreated like a tide that had forgotten to return. What remained was brown. Beige. The color of things that had given up on being colorful.

The voices did not fall silent. But they became quieter. More subdued. As if they had simultaneously realized that screaming left no energy left.

And around us—around the gathering of inner instances—a space materialized that was hardly a space anymore.

A cube. Or something that had once wanted to be a cube. The walls were brown and beige, crisscrossed with blue lines—not the bright turquoise of the beginning, but a tired, pale blue. The color of veins beneath exhausted skin. These lines defined rectangles, windows, passageways, levels—but everything was permeable, transparent, as if seen through damp paper.

The room had several floors. Or it had no floors, only the memory that there had once been a distinction between above and below. You could see the floor and the ceiling, the front wall and the back wall, all superimposed, all present at the same time.

“Oh,” said the fearful one. Her voice—the light green tremor—was now little more than a whisper. “Oh no. That’s… that’s…”

“Exhaustion,” finished the Wise One. His dark green had faded to a dull brown. “That’s what happens when a building can’t go on any longer. When all the colors are used up.”

“That is UNACCEPTABLE,” the Angry One tried to shout, but his red voice came out only as a muted orange. “We can’t end up in a… a… BEIGE room! After everything we’ve been through!”

“We should make a list,” murmured the Conscientious One, but his blue voice sounded uncertain.

“Of all the colors we’ve lost. Systematically document where they’ve gone.”

“What for?” asked the Contrarian. Her violet had turned to a mouse-gray tone. “So we know exactly how much we’ve lost? That’s just depressing.”

The Decider—whom I hadn’t heard from yet—spoke up. Her voice was a hard, decisive brown. “We have to get out of here. That’s clear. This room is toxic. It’s sucking the last of our energy out of us. I suggest—”

“You always suggest,” interrupted the Dissentor wearily.

“Someone has to,” countered the Decider.

“Excuse me,” said the Social One, her turquoise voice now so pale it was barely audible. “Maybe we should ask how everyone is doing? If anyone needs support? We’re all exhausted, and—”

“OF COURSE we’re all exhausted,” said the Angry One. “Look around! We’re trapped in a BEIGE CUBIC SPACE!”

I—or what was left of me that still had something like a center—tried to understand the room. The blue lines formed rectangles everywhere. Some were windows that looked out onto other parts of the same room. Others were doors that led nowhere. Still others were simply… lines. Attempts by the structure to assert itself, even though it no longer had any power.

“It’s like the exhausted corridor,” said the Wise One quietly. “But three-dimensional. An exhaustion that spreads in all directions.”

“I have a theory,” said the Obedient One. His voice—a nervous, submissive yellow, now faded to ochre—was hurried. “Maybe this is a test? Maybe the building expects us to do something specific? Shouldn’t we—”

“Nothing expects anything from us,” said the Contradictor. “The building is just as exhausted as we are.”

“Maybe,” said the Wise One slowly, “that’s the point. That we are finally in the same place as the building. No longer visitors. No longer intruders. But… fellow inhabitants of its fatigue.“

Silence. The blue lines around us pulsed faintly, like a heartbeat slowing down.

”That’s actually quite beautiful,“ ventured the Restless One, his magenta energy now muted to a pale pink. ”Not beautiful in the sense of pretty, but… honest?”

“Honest,” echoed the Diligent One. His yellow had turned completely brown. “Yes. It’s honest. We’ve worked so hard, and in the end—we’re tired. It’s not glamorous. But it’s real.”

“I don’t want to be real,” whispered the Anxious One. “Real means finite. Real means mortal.”

“We’ve always been mortal,” said the Wise One gently.

The space around us began to shift. Not dramatically. Slowly, like continental drift. The rectangles pushed into each other, the planes overlapped, the perspectives merged. It wasn’t impossibility by design. It was impossibility by indifference. The space no longer had the energy to remain coherent.

“Shouldn’t we… do something?” asked the Chatterbox. His voice—a sociable, chatty pink—had been silent the whole time, for the first time ever. “I usually talk a lot, but here… what is there to say?”

“Perhaps,” said the Decider, but her harshness was broken, “this is the end. The reverse ascent doesn’t end with a summit. It ends with… this. With beige and exhaustion.“

”NO,“ said the Angry One, but weakly. ”That can’t… that mustn’t…“

”Why not?” asked the Contrarian. “Why does every story have to have a triumphant ending? Maybe some stories are just… tired.”

I looked through the transparent walls. Through the overlapping planes. Through all the rectangles and passages and non-passages. And saw: nothing new. Just more of the same. Brown and beige and pale blue lines stretching into infinity.

“I have a question,” I said—and surprised the voices, which fell silent for a moment.

“You can speak?” asked the social one in amazement. “Not as one of us, but as… you?”

“I think so,” I said. “And my question is: What if this isn’t the end? What if this is the place where we have to learn to work together? You’ve been talking against each other the whole time. Arguing. Contradicting each other. What if the beige cube is the place where you have to start listening to each other?“

Silence. The blue lines pulsed a little stronger.

”That is,“ said the Conscientious one slowly, ”a methodologically interesting hypothesis.“

”Of course I disagree,” said the Contradictor automatically, then paused. “But… maybe not.”

“We could try,” said the Diligent One.

“I’m afraid it won’t work,” said the Fearful One.

“Of course you are,” said the Decider, but more gently than usual.

For the first time, the voices actually began to talk to each other. Not over each other. But with each other.

And as they spoke, something strange happened:

The beige cube began to take on color.

Not much. Just a hint.

A hint of pink here.

A glimmer of yellow there.

A whisper of turquoise in the corners.

The exhaustion remained. But it became… bearable.

And that, I understood, was perhaps the most valuable thing of all.


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