Kapitel 19: Das blaue Schimmern des Rausches

Die Treppe endete nicht in einem Raum.

Sie endete in Immersion.

Als die Stadt der inneren Stimmen – als wir – den letzten Schritt hinabgingen, löste sich alles auf. Nicht in Leere. In Blau. Alle Nuancen von Blau, die je existiert hatten, und einige, die nur in diesem Moment erfunden wurden.

Türkis – das alte, vertraute Türkis des ersten Treppenhauses, aber jetzt nicht mehr fiebernd. Strahlend. Leuchtend von innen wie flüssiges Licht.

Violett – tief, satt, königlich. Nicht mehr melancholisch. Ekstatisch.

Ultramarinblau – so intensiv, dass es wehtat zu schauen, aber unmöglich war wegzusehen.

Helles, blasses Blau – wie Himmel, wie Eis, wie die Farbe von Dingen, die noch nicht entschieden haben, ob sie fest oder gasförmig sein wollen.

Schwarzblau – Mitternacht komprimiert zu Pigment.

Die Flächen schwebten übereinander, durcheinander, ineinander. Keine festen Wände mehr. Nur Ebenen. Transparente, sich überlappende Schichten aus Farbe und Licht. Manche waren horizontal, andere vertikal, wieder andere diagonal, und einige weigerten sich, überhaupt eine Orientierung zu haben.

“Oh”, sagte die Ängstliche, und ihre Stimme zitterte nicht mehr vor Angst. Sie zitterte vor Ehrfurcht. “Oh. Das ist…”

“…zu viel”, versuchte sie zu sagen, aber das Unruhige unterbrach: “Nein! Nein, es ist genau richtig! Es ist – es ist –”

“Rausch”, vollendete der Weise ruhig. “Das ist, was passiert, wenn Farbe aufhört, Bedeutung zu sein, und anfängt, Erfahrung zu sein.”

Die violetten Flächen pulsierten. Sie atmeten im Rhythmus von etwas, das kein Herz war, aber trotzdem Leben pumpte. Das Türkis floss zwischen ihnen hindurch wie ein Fluss, wie ein Gedanke, wie die Verbindung zwischen zwei Ideen, die nie zusammengehört hatten, bis genau jetzt.

“ICH”, rief das Zornige, aber seine Stimme war nicht mehr wütend. Sie war begeistert. “ICH FÜHLE ETWAS! Endlich! Nach all dem Beige, nach all der Erschöpfung – hier ist ENERGIE!”

“Zu viel Energie”, murmelte der Gewissenhafte nervös. “Wir sollten vorsichtig sein. Kartographieren. Verstehen, bevor wir –”

“NEIN!” Die Bestimmerin, überraschend, widersprach ihm. “Diesmal nicht. Diesmal lassen wir los. Siehst du nicht? Das ist das Gegenteil von Kontrolle. Das ist Hingabe.”

“Hingabe”, echote die Widersprecherin, und zum ersten Mal klang sie nicht skeptisch. Nur staunend. “An was?”

“An die Farbe selbst”, sagte der Kluge. “An die pure Sensation. An das Erlebnis, ohne es zu kategorisieren.”

Die Stadt, die wir waren – die rosa und violetten und gelben und grünen Türme – begann sich aufzulösen. Nicht zu zerfallen. Zu verflüssigen. Unsere Formen wurden durchlässig, transparent, begannen mit dem Blau zu verschmelzen.

“Ich habe Angst”, flüsterte die Ängstliche, aber ihre Stimme klang neugierig. “Aber ich möchte trotzdem… eintauchen?”

“Dann tu es”, sagte die Soziale sanft. “Wir sind alle hier. Niemand ist allein.”

Und wir ließen los.

Die türkisen Flächen nahmen uns auf. Das Violett umhüllte uns. Das dunkle Blau zog uns in seine Tiefe. Wir waren nicht mehr getrennte Stimmen. Wir waren Strömung. Teil des Flusses aus Farbe, der durch den Raum floss wie Zeit durch Bewusstsein.

“Das ist”, sagte der Plauderer, und seine Stimme klang endlich entspannt, “das erste Mal, dass ich nicht reden muss. Die Farbe spricht für mich.”

“Für uns”, korrigierte die Soziale.

Die Ebenen um uns herum begannen sich zu bewegen. Nicht zufällig. In Mustern. Komplex, ineinander verschlungen, wie ein visueller Tanz. Türkise Dreiecke schoben sich durch violette Rechtecke. Blaue Streifen kreuzten sich mit dunkleren Schatten. Überall war Tiefe, Schichtung, Überlagerung – aber keine Verwirrung. Nur Reichtum.

“Ich verstehe jetzt”, sagte der Fleißige, dessen Stimme das erste Mal nicht erschöpft klang, “warum der Architekt das Gebäude gebaut hat. Nicht um etwas zu erreichen. Sondern um hierher zu kommen. Zu diesem Moment. Wo Farbe nicht mehr Mittel ist, sondern Zweck.”

“Es gibt keinen Zweck”, widersprach die Widersprecherin, aber sanft. “Das ist der Punkt. Es ist einfach.”

Das Schwarzblau in den Ecken verdichtete sich zu Konturen. Nicht zu Grenzen. Zu Betonungen. Es sagte: Hier. Sieh hier hin. Diese Überlappung. Dieses Durchdringen. Diese unmögliche Transparenz.

“Wenn ich malen könnte”, sagte der Vorauseilende Gehorsam – der das erste Mal nicht versuchte, jemandem zu gefallen – “würde ich nur Blau malen. Für immer. Alle Blautöne. Übereinander. Bis niemand mehr weiß, wo ein Blau endet und ein anderes beginnt.”

“Du malst bereits”, sagte der Weise. “Wir alle malen. Das ist, was wir tun, während wir hier sind. Wir sind Pinselstriche in einem Gemälde, das sich selbst malt.”

Die Ebenen begannen schneller zu rotieren. Das Türkis wurde heller, intensiver. Das Violett vertiefte sich. Wir – die inneren Stimmen, die Stadt, die Koalition – wurden Teil der Choreographie. Unsere Formen wurden zu Flächen, unsere Farben vermischten sich mit dem Blau des Raums.

“Ist das Auflösung?”, fragte die Ängstliche. Aber sie klang nicht ängstlich. Nur interessiert.

“Nein”, antwortete die Bestimmerin. “Das ist Integration. Wir hören nicht auf zu existieren. Wir hören auf, getrennt zu sein.”

“Von was?”, fragte die Widersprecherin.

“Vom Gebäude”, sagte der Weise. “Vom Blau. Von der Erfahrung selbst.”

Das Ultramarinblau in der Mitte pulsierte stärker. Es war ein Kern, ein Zentrum, aber kein fixes. Es bewegte sich, floss, war überall und nirgends. Als wir uns ihm näherten – oder als es sich uns näherte, die Richtung war unklar – spürten wir:

Freude.

Nicht unsere Freude. Die Freude des Gebäudes. Es war glücklich, dass wir hier waren. Dass wir aufgehört hatten zu kämpfen. Dass wir uns dem Blau hingaben.

“Können wir hier bleiben?”, fragte die Soziale. “Für immer? In diesem Rausch?”

“Nein”, sagte der Gewissenhafte, aber nicht traurig. “Rausch ist per Definition temporär. Aber wir können zurückkommen. Immer wieder. Jedes Mal, wenn wir aufhören zu denken und anfangen zu fühlen.”

Die türkisen und violetten Flächen begannen, sich zu beruhigen. Nicht zu stoppen. Zu verlangsamen. Der Rausch ebbte. Aber er verschwand nicht. Er sank in uns ein, wurde Teil unserer Substanz.

Als die Bewegung schließlich endete, standen wir – wieder als Stadt, wieder als getrennte Stimmen, aber verändert – auf einer Plattform. Blau. Durchscheinend. Schwebend über nichts.

“Das war”, sagte das Zornige leise, “das Schönste, was ich je erlebt habe.”

Alle stimmten zu.

Sogar die Widersprecherin.

Vor uns öffnete sich ein Durchgang. Nicht durch eine Wand. Durch das Blau selbst. Ein dunklerer Streifen, eine Einladung.

“Sollen wir?”, fragte die Ängstliche.

“Gemeinsam”, sagte die Bestimmerin.

Und wir gingen hindurch.

Noch immer schimmernd.

Noch immer blau.

Noch immer berauscht.

Aber jetzt auch: ganz.

Chapter 19: The Blue Glow of Intoxication

The staircase did not end in a room.

It ended in immersion.

As the city of inner voices—as we—took the last step down, everything dissolved. Not into emptiness. Into blue. Every shade of blue that had ever existed, and some that were invented only in that moment.

Turquoise—the old, familiar turquoise of the first staircase, but now no longer feverish. Radiant. Glowing from within like liquid light.

Violet—deep, rich, regal. No longer melancholic. Ecstatic.

Ultramarine blue—so intense that it hurt to look at, but impossible to look away.

Light, pale blue—like sky, like ice, like the color of things that haven’t yet decided whether they want to be solid or gaseous.

Black-blue – midnight compressed into pigment.

The surfaces floated above each other, intermingled, intertwined. No more solid walls. Only planes. Transparent, overlapping layers of color and light. Some were horizontal, others vertical, still others diagonal, and some refused to have any orientation at all.

“Oh,” said the fearful one, and her voice no longer trembled with fear. It trembled with awe. “Oh. This is…”

“…too much,” she tried to say, but the restless one interrupted: “No! No, it’s just right! It’s—it’s—”

“Intoxication,” the wise one finished calmly. “That’s what happens when color ceases to be meaning and begins to be experience.”

The purple areas pulsed. They breathed in rhythm with something that was not a heart, but still pumped life. The turquoise flowed between them like a river, like a thought, like the connection between two ideas that had never belonged together until this very moment.

“I,” cried the Angry One, but his voice was no longer angry. It was excited. “I FEEL SOMETHING! Finally! After all the beige, after all the exhaustion—here is ENERGY!”

“Too much energy,” murmured the Conscientious One nervously. “We should be careful. Map it. Understand before we—“

”NO!“ The Decider, surprisingly, disagreed with him. ”Not this time. This time we let go. Don’t you see? This is the opposite of control. This is surrender.“

”Surrender,” echoed the Dissentor, and for the first time she didn’t sound skeptical. Just amazed. “To what?”

“To the color itself,” said the Clever One. “To the pure sensation. To the experience, without categorizing it.”

The city we were—the pink and purple and yellow and green towers—began to dissolve. Not to crumble. To liquefy. Our forms became permeable, transparent, began to merge with the blue.

“I’m scared,” whispered the fearful one, but her voice sounded curious. “But I still want to… dive in?”

“Then do it,” said the social one gently. “We’re all here. No one is alone.”

And we let go.

The turquoise surfaces absorbed us. The violet enveloped us. The dark blue pulled us into its depths. We were no longer separate voices. We were current. Part of the river of color that flowed through space like time through consciousness.

“This is,” said the chatterbox, his voice finally sounding relaxed, “the first time I don’t have to talk. The color speaks for me.”

“For us,” corrected the social one.

The planes around us began to move. Not randomly. In patterns. Complex, intertwined, like a visual dance. Turquoise triangles pushed through purple rectangles. Blue stripes crossed with darker shadows. Everywhere there was depth, layering, overlap—but no confusion. Only richness.

“I understand now,” said the diligent one, whose voice didn’t sound exhausted for the first time, “why the architect built the building. Not to achieve something. But to get here. To this moment. Where color is no longer a means, but an end.”

“There is no end,” contradicted the contradictor, but gently. “That’s the point. It’s simple.”

The black-blue in the corners condensed into contours. Not into boundaries. Into emphases. It said: Here. Look here. This overlap. This interpenetration. This impossible transparency.

“If I could paint,” said the hasty obedient one—who for the first time was not trying to please anyone—”I would only paint blue. Forever. All shades of blue. On top of each other. Until no one knows where one blue ends and another begins.“

”You already paint,“ said the wise man. ”We all paint. That’s what we do while we’re here. We are brushstrokes in a painting that paints itself.”

The planes began to rotate faster. The turquoise became brighter, more intense. The violet deepened. We—the inner voices, the city, the coalition—became part of the choreography. Our shapes became surfaces, our colors mingled with the blue of the room.

“Is this dissolution?” asked the fearful one. But she didn’t sound fearful. Just interested.

“No,” replied the decision-maker. “This is integration. We are not ceasing to exist. We are ceasing to be separate.”

“From what?” asked the dissenter.

“From the building,” said the wise one. “From the blue. From the experience itself.”

The ultramarine blue in the middle pulsed more strongly. It was a core, a center, but not a fixed one. It moved, flowed, was everywhere and nowhere. As we approached it—or as it approached us, the direction was unclear—we felt:

Joy.

Not our joy. The joy of the building. It was happy that we were here. That we had stopped fighting. That we had surrendered to the blue.

“Can we stay here?” asked the social one. “Forever? In this intoxication?”

“No,” said the conscientious one, but not sadly. “Intoxication is, by definition, temporary. But we can come back.

Again and again. Every time we stop thinking and start feeling.”

The turquoise and purple areas began to calm down. Not to stop. To slow down. The intoxication ebbed. But it did not disappear. It sank into us, became part of our substance.

When the movement finally ended, we stood—once again as a city, once again as separate voices, but changed—on a platform. Blue. Translucent. Floating above nothing.

“That was,” said the Angry One quietly, “the most beautiful thing I have ever experienced.”

Everyone agreed.

Even the Contrarian.

A passageway opened up before us. Not through a wall. Through the blue itself. A darker strip, an invitation.

“Shall we?” asked the fearful one.

“Together,” said the decisive one.

And we walked through.

Still shimmering.

Still blue.

Still intoxicated.

But now also: whole.


Discover more from SchWeinWelten

Subscribe to get the latest posts sent to your email.

Support this blogging project voluntarily with just 1 EUR per month!

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *